Bringen die Sanktionen Russland ins Wanken?
Europa soll sich mit „Schnaps, wattierten Decken und Wasserkochern ausrüsten“, riet dieser Tage Dmitri Medwedjew, Vizechef des russischen Sicherheitsrates. Der westliche Preisdeckel auf russische Ölexporte werde nämlich damit enden, dass entweder die Ware verschwinde oder der Preis steige. „Im ungleichen Gerangel mit dem russischen Bären und dem General Frost“ unterliege der Westen.
Ob und wie sehr Europa – bis zuletzt größter Käufer russischen Öls – und der Weltmarkt den am 5. Dezember eingeführten Preisdeckel (60 Dollar je Barrel für die russische Sorte Urals) und den EU-Stopp der Seeimporte von russischem Erdöl noch zu spüren bekommen, wird vor allem von den Gegenmaßnahmen abhängen, die der Kreml angekündigt hat.
Unterdessen sind in Russland selbst Experten längst am Rechnen, wie die dortige Wirtschaft die neue Realität verdauen wird. Und ob sie nun ins Wanken gerät.
„Kumulativer Effekt“
Für Beunruhigung haben in der Vorwoche Analysten aus der Prognoseabteilung der russischen Zentralbank gesorgt. In ihrem Bericht prophezeien sie nämlich einen neuen Schock für die Wirtschaft durch die Öl-Sanktionen. Diese hätte sich nach einem Einbruch im zweiten Quartal und nach der Teilmobilmachung im September zuletzt zwar wieder stabilisiert. Aber die Beschränkungen hätten „auch einen andauernden, kumulativen Effekt“, der das wirtschaftliche Potenzial „aufgrund schrumpfender Produktivität und Effizienz“, besonders in Sektoren der Hochtechnologie mit der Zeit verringere.
Im Übrigen stellen die Analysten klar, dass ihre Schlüsse sich nicht mit der offiziellen Position der Zentralbank decken müssen. Ganz gewiss nicht decken sie sich mit der des Energieministeriums. Dessen Vizechef, Pavel Sorokin, stellte umgehend klar, dass die neuen Sanktionen keine wesentlichen Folgen für Russland haben werden. Der Ölpreis würde durch einen „offensichtlichen Mangel“ bei mehreren Ölprodukten und durch das fehlende Überangebot an Öl hochgehalten, sagte er. „Ein Großteil des Marktes bleibt für unsere Ware zu angemessenen Marktprinzipien zugänglich.“
Neue Exportströme
In der Tat hat China dies bereits zugesagt. Und auch Russlands relativ neuer Rohstoffkunde Indien deutete an, nicht sehr viel vom westlichen Embargo zu halten.
Wie sehr sich die russischen Exportströme schon vor dem jetzigen Embargo geändert haben, zeigte soeben die russische Ratingagentur Akra auf. Für den Zeitraum Januar bis Oktober sei gegenüber 2021 nämlich sogar ein Förderzuwachs bei Öl und Gaskondensaten um 2,4% auf 443 Mill. Tonnen zu verzeichnen. Dies ist umso auffälliger, als nicht nur die USA und Großbritannien seit Kriegsbeginn kein russisches Öl mehr kaufen, sondern auch die EU, die im Vorjahr 47% (2,2 Mill. Barrel täglich) des russischen Ölexports gekauft hatte, den Import aber schon in den vergangenen Monaten stark zurückgefahren hat. Waren vor Kriegsbeginn laut Preis-Infodienst Argus Media 85% der Seeexporte der Sorte Urals in die EU gegangen, so im September nur noch 24%. Russland konnte also den Großteil, etwa 1,2 Mill. Barrel pro Tag, nach Asien umlenken.
China habe eigenen Zolldaten zufolge in den ersten neun Monaten im Jahresvergleich knapp 10% mehr in Russland gekauft, schreibt das russische Wirtschaftsmedium RBC. Auch Indien nützte die Gunst der Stunde, dass Russland Rabatte gewähren musste, und hat Argus zufolge Anfang Herbst plötzlich 40% der See-Exportmenge russischen Urals-Öls abgenommen. Und der Anteil der Türkei stieg von zuvor 5 auf 21%. Russland ist vorerst also – abgesehen vom 20-prozentigen Preisrabatt gegenüber der europäischen Ölsorte Brent – relativ fein raus.
Schlechtere Prognosen
Und doch ist nichts wie früher. Denn die Förderprognosen für die nächsten Jahre werden schlechter. Und die Budgeteinnahmen aus den öl- und gasfernen Wirtschaftssektoren sind sanktions- und konjunkturbedingt um über 20% eingebrochen. Den Einnahmen aus dem Export von Öl und Ölprodukten, die laut Zollamt 37% des gesamten russischen Warenexportes ausmachen und die gemeinsam mit dem Gasexport staatstragend sind, kommt daher künftig noch mehr Bedeutung zu. Denn die Staatsausgaben bleiben kriegsbedingt hoch, Finanzminister Anton Siluanow hat soeben die Prognose für das diesjährige Budgetdefizit von 0,9% des BIP auf 2% des Bruttoinlandsprodukts angehoben.
Nicht zufällig hat die Regierung fundamentale Änderungen in der Budgetplanung beschlossen: Sie entbinden den Staat von bisherigen Sparregeln und geben ihm freieren Zugriff auf die Einnahmen aus dem Öl- und Gasexport.
Das Finanzministerium kalkuliert fortan damit, dass es bei einem Urals-Preis von 60 Dollar je Barrel und einer Tages-Förderung von 9,5 Mill. Barrel etwa 8 Bill. Rubel (entspricht etwa 121 Mrd. Euro) im Jahr einnimmt. Das wäre ein durchaus komfortables Niveau, sagt Michail Krutichin, Partner des Moskauer Energieberaters Rusenergy, auf Anfrage der Börsen-Zeitung. In den ersten zehn Monaten dieses Jahres waren es allerdings erst 4,8 Bill. Rubel (70 Mrd. Euro).
Flotte an Öltankern
Um die Auswirkungen der jetzigen Öl-Sanktionen zu minimieren und die restlichen Volumina, die Europa nun nicht mehr abnimmt, anderweitig abzusetzen, hat Russland auch insofern vorgebaut, als es sich eine ganze Flotte von über hundert Öltankern zugelegt hat, berichtete kürzlich die Zeitung „Financial Times“. Mit ihnen könnten jene globalen Anbieter umgangen werden, die künftig keine Transportversicherung mehr bekommen, wenn sie russisches Öl teurer als 60 Dollar je Barrel verschiffen wollen.
Krutichin ist überzeugt, dass Russland die frei gewordenen Ölmengen mangels Nachfrage nicht von Europa nach Asien umlenken könne. Die russische Investmentbank Renaissance Capital behauptet in einer Analyse das Gegenteil – und meint: Richtig beurteilen, schreibt sie, könne man den Effekt der Öl-Sanktionen wohl erst im März.