Cyberangriff schickt Washington in die 1970er
Der Cyberangriff gegen die 8900 Kilometer lange Colonial Pipeline weckte kürzlich Erinnerungen an meine Kindheit in Washington. Während des arabischen Ölembargos der siebziger Jahre nahm sich mein Vater jede Woche einen Nachmittag frei, um nichts anderes zu tun, als zu tanken. Nachdem er abends mit einem vollen Tank nach Hause kam, sahen wir im Fernsehen Bilder der langen Schlangen von Autofahrern, die in der brutalen Sommerhitze der US-Hauptstadt stundenlang warteten, um endlich an eine Zapfsäule zu kommen.
Nun hat sich das Phänomen wiederholt. Nicht wie damals wegen eines Embargos der Opec-Staaten. Auslöser war vielmehr eine Cyberattacke gegen das Betriebssystem der texanischen Pipeline, die über die Staaten der Atlantikküste bis nach New Jersey verläuft. Die Panikkäufe fielen mir erstmals vor einer Woche auf, als ich auf dem Heimweg von meiner zweiten Corona-Impfung war. In der rechten Spur stehend, begriff ich nicht, warum sich bei einer grünen Ampel nichts bewegte. Ich wechselte in die mittlere von drei Spuren und sah, dass alle nach rechts in eine Shell-Tankstelle einbiegen wollten, von der ich später erfuhr, dass sie nur eine von dreien in einem Umkreis von acht Kilometern war, deren unterirdische Tanks noch nicht geleert waren.
Mit einem knappen halben Tank im Wagen war ich für die nächsten Tage deswegen gut gerüstet, weil die meiste Arbeit ja ohnehin vom Homeoffice aus verrichtet wird. Als die Tankstellen aber noch Anfang dieser Woche auf dem Trockenen saßen, setzte langsam eine gewisse Nervosität ein. Am Dienstagnachmittag dann das große Glück: Gähnende Leere vor einer selten frequentierten Sunoco-Tankstelle in Reston, Virginia. Der Pächter sagte mir, sie hätten seit zwei Stunden reichlich Vorräte mit allen Oktanstufen.
Problem gelöst, und nun hoffen wir so wie alle Amerikaner, dass die Betriebssysteme von Colonial Pipeline – die am Mittwoch zugab, an die Hacker ein Lösegeld von 4,4 Mill. Dollar gezahlt zu haben – gesichert werden und sich weitere Angriffe gegen die Energie-Infrastruktur verhindern lassen.
Die Amerikaner haben nun aber eine andere Sorge, nämlich steigende Preise. Auf ganze 3 Dollar pro Gallone war als Folge des Cyberangriffs in der vergangenen Woche der Durchschnittspreis für eine Gallone Normalbenzin gestiegen, der höchste Stand seit 2014. Dies wiederum beweist, dass alles relativ ist. Denn 3 Dollar entspricht etwa 66 Eurocent pro Liter, ein Ergebnis der deutlich niedrigeren Benzinsteuer in den USA und eine Zahl, um die europäische Autofahrer die Amerikaner beneiden würden.
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Selbst vier Monate nach dem Regierungswechsel in Washington tun sich Republikaner schwer, zum früheren Präsidenten Donald Trump auf Distanz zu gehen. Nun wollen sie die Bildung eines Sonderausschusses im Kongress blockieren, der den Hintergründen des Aufstands im Kapitolsgebäude vom 6. Januar nachgehen soll. Demokraten bestehen darauf, dass ähnlich wie nach der Ermordung des 35. Präsidenten John F. Kennedy und den Terroranschlägen vom 11. September 2001 eine Sonderkommission gegründet wird, die sich mit den Hintergründen und der Motivation der wichtigsten Akteure befassen würde. Im Mittelpunkt würde natürlich kein Geringerer als Trump selbst stehen, der vor dem Aufstand in einer Rede seinen aufgebrachten Anhängern gesagt hatte: „Ihr müsst kämpfen wie die Hölle, sonst habt ihr keine Nation mehr!“
Zunächst hatte es auch den Anschein, als stünde der Bildung des Ausschusses nichts im Wege. Dann aber bestand der Trump-Loyalist Kevin McCarthy, der die republikanische Fraktion im Repräsentantenhaus leitet, darauf, dass die Kommission paritätisch besetzt wird. Ihn überraschte allerdings die Tatsache, dass die Demokraten damit einverstanden waren. Nun ist McCarthy plötzlich dagegen, weil er und Trump als Zeugen gerufen werden könnten. Den Opportunismus der Republikaner illustriert auch der mächtige Mitch McConnell, Republikaner-Chef im Senat. Auch er will den 6. Januar zu den Akten legen. Dies, obwohl er seinerzeit gesagt hatte, dass Trump allein den Aufstand auf dem Gewissen habe.