Das Damoklesschwert über dem Versicherer-Geschäftsmodell
Plattformökonomie in der Versicherungswirtschaft
Wie ein Damoklesschwert über dem Geschäftsmodell
Digital, individuell und mit Mehrwert: Die Plattformökonomie soll die Versicherungswirtschaft auf ein neues Level heben. Wer auf traditionellen Angeboten verharrt, könnte schnell abgehängt werden.
Von Sebastian Schmid, Frankfurt
Die Versicherungswirtschaft ist schon qua Kundenversprechen risikoavers. Um Risiken abzusichern, gibt es schließlich Versicherungen. Von daher wundert es nicht, wenn die Branche sich bei der Digitalisierung eher als Nachzügler denn als Speerspitze erweist. Dennoch ist den meisten Versicherern bewusst, dass sie die digitale Transformation nun aktiv gestalten müssen. Einer Studie von Lünendonk zufolge wollen fast zwei Drittel der Versicherer in den kommenden beiden Jahren in die Entwicklung komplett neuer und disruptiver Geschäftsmodelle investieren. Dabei rechnen viele befragte Unternehmen mit einer Ausweitung der Plattformökonomie. Zwar spielt diese heute für vier Fünftel noch keine Rolle. Dass dies auch 2026 so sein wird, glauben indes nur noch 33%. Nur 7% waren Anfang des Jahres bereits beim Aufbau eines eigenen Ökosystems oder beteiligen sich an externen Plattformen. In zwei Jahren erwarten allerdings knapp 40%, damit befasst zu sein. Das steht indes in einem gewissen Widerspruch zu anderen Aussagen. So sagen 91%, dass sie sich nicht gegenüber Dritten öffnen möchten. Aber wie soll dann eine Plattform entstehen?
Eine Erklärung für die Zurückhaltung bei der Kooperation mit Dritten dürfte auch in der technischen Limitierung liegen. „Viele Banken und Versicherungen sind heute in ihren Anwendungslandschaften monolithisch aufgestellt. Die alten Technologien und die hohe Komplexität infolge gewachsener Abhängigkeiten stehen zügigen Implementierungen von Kooperationen im Weg. Ihre Prioritäten liegen oft darauf, erst einmal den Betrieb sicherzustellen und dann die regulatorischen Anforderungen zu erfüllen", erklärt Prof. Dr. Markus Warg, Leiter des Instituts für Service Design (IfSD) in Hamburg, im Gespräch mit der Börsen-Zeitung. Warg saß von 2009 bis 2018 im Vorstand der Signal Iduna Gruppe. Dort entwickelte er die Grundlage für eine Service-dominierte Herangehensweise, die er auch anderen Branchenvertretern rät. Es gelte, näher an den Kunden zu kommen. In den wenigsten Fällen gehe es den Menschen, wenn sie etwas kaufen, um das Produkt selbst. „Du kaufst keine DVD, sondern willst einen tollen Film sehen. Du kaufst kein Auto, sondern unabhängige Mobilität. Für das Wertversprechen und den Gebrauchsnutzen geben wir Geld aus, nicht für das Produkt an sich", ist Warg überzeugt.
Aus der Interaktion mit Kunden lernen
Wer sich aber vom Produktverkäufer zum Manager von Kundenbeziehungen entwickeln wolle, sei gezwungen, aus jeder Kundeninteraktion zu lernen und das datenbasierte Verständnis für das nächste Wertversprechen nutzen. In der Lünendonk-Studie verweisen die Versicherer als größte Hürde für eine offene Versicherungsplattform auf die Herausforderungen bei Datenschutz und Datensicherheit. Auch viele Kunden in Europa sind hier oftmals zurückhaltend. Warg ist indes überzeugt, "wenn es darum geht, individuelle Risiken auszuschließen, sind die Menschen immer auch bereit, ihre Gesundheitsdaten zu teilen und das gerne“. Oftmals sind die Interessen vom Versicherten und der Versicherung auch kongruent, etwa im Gesundheitswesen: Früherkennung von Krankheiten kann nicht nur Heilungschancen verbessern, sondern ist meist auch günstiger in der Behandlung und damit für die Versicherung.
Mit der elektronischen Patientenakte (ePA) sind die Möglichkeiten, eine Plattform aufzubauen und darum herum umfangreiche Dienstleistungen anzubieten, deutlich gestiegen. Bislang hätten in Deutschland vier private Krankenversicherungen die ePA eingeführt, so Warg. Zwei davon hätten dies über die von ihm mitentwickelte SDA-Plattform gemacht: neben der Signal Iduna auch die Allianz. Gothaer und Hallesche hätten sich entschieden, die ePA direkt an ihre Systeme anzuschließen. Die Allianz entwickele ihre Health Plattform gerade dahingehend weiter, dass der Kunde beispielsweise nicht nur das E-Rezept zugestellt bekommt, sondern auch die Lieferung des Medikamentes organisiert und die Bezahlung vom Versicherer direkt übernommen wird. „Der Kunde muss weder zur Apotheke, noch bezahlen oder die Rechnung einreichen.“ Diese Form der Convenience sei es, die Kunden künftig von ihren Versicherern erwarten. Und dies werde nur möglich sein, wenn die Versicherungen eng vernetzt mit Partnern zusammenarbeiteten. In diesem Beispiel von Ärzten über Apotheken bis hin zu Spezialisten für Medikamentenlogistik. “Warum ganze supply chains selbst vorhalten, wenn die Lösung auch über eine Kooperation bezogen werden kann?".
Erst die Strategie, dann die Realisierung
Auch wenn sich in anderen Bereichen der Plattformökonomie die großen Tech-Konzerne durchgesetzt haben, glaubt Warg, dass es im Versicherungsgeschäft anders laufen könnte. Es gehe in dem Geschäft zuerst um die Strategie, den Plan und die Hoheit über die zielgruppenrelevanten Daten, Prozesse und Regeln. Erst dann um die Realisierung und die Technologie der Hyperscaler. Mit Blick auf das „Verständnis der Businessstrategien und Kundenbedürfnisse“ seien die Hyperscaler schlecht aufgestellt. Das bedeute nicht, dass klassische Finanzdienstleister nur eine kleine Lernkurve vor sich hätten. „Die Banken und Versicherer müssen sich auch umstellen. Der Wert der strategischen Serviceplattform entsteht erst daraus, dass aus jeder Kundeninteraktion mit der Plattform gelernt und beim Wertversprechen nachgebessert wird", so Warg. Der Wert eines Angebots werde nicht darüber definiert, „was ich als Unternehmen an Aufwand in ein Produkt reinstecke, sondern über den Wert, den ein Kunde entsprechend seiner Präferenzen aus dem Produkt zieht“. Beispiele aus der Versicherungsbranche für derartige Verbesserungen gibt es einige. Wer sein Geschäftsmodell in den nächsten Jahren nicht anpasst, droht aus dem Markt zu fliegen. Die Plattformökonomie hängt wie ein Damoklesschwert über der Branche.