Das Schreckgespenst der Fragmentierung sucht die EZB wieder heim
Das wiedererwachte Interesse an der Geldpolitik ist mit neuen Problemen und Risiken für die Zentralbanken verbunden. Wie geht man mit der Pandemie um, insbesondere mit dem Ausstieg? Lässt sich die steigende Inflation kontrollieren? Sollte man Kriegsrisiken einkalkulieren? Unschlüssig, wie sie vorgehen sollen, werden die Zentralbanker und Zentralbankerinnen in Kontroversen hineingezogen, die ihrer Führungsrolle und ihrem Ansehen schaden könnten.
Und doch sollten diese Probleme nicht allzu schwer zu bewältigen sein. Zumindest nicht für Zentralbanken mit klar vorgegebenen Zielen – wie sie alle Zentralbanken jetzt haben – und ausreichender Entschlossenheit.
Die Fed hat sich bewegt
Der Fall der USA gestaltet sich relativ einfach. Die US-Wirtschaft wurde von zwei Schocks getroffen: einer mit gemischten Auswirkungen auf Angebot und Nachfrage, die Pandemie; der andere mit reinen Nachfrageeffekten, die fiskalische Expansion unter US-Präsident Joe Biden. Die offensichtliche Antwort war eine rigide Geldpolitik. Nach einigen Verzögerungen bei der Anerkennung dieser Wirklichkeit hat die US-Notenbank Fed unter Jerome Powell diesen Weg nun deutlich eingeschlagen.
Die Situation der Europäischen Zentralbank (EZB) ist vergleichsweise schwieriger. Zunächst einmal gab es in der Eurozone keinen fiskalischen Schock: Der Wiederaufbaufonds „Next Generation EU“, Europas Antwort auf die Coronakrise, muss seine volle Wirkung erst noch entfalten. Zudem war die steigende Inflation während der Pandemie ausschließlich auf Angebotsengpässe zurückzuführen. In der Annahme, dass diese Engpässe vorübergehend sind, hat die EZB nach einem ersten großen Schritt im Jahr 2020 mit ihrem Pandemie-Notfallankaufprogramm („Pandemic Emergency Purchase Programme“, PEPP) dann eine abwartende Haltung an den Tag gelegt.
Leider hat sich die EZB nach einem durchaus sinnvollen Auftakt zwei Fehler geleistet, für die sie nun die Quittung erhält.
Der erste Fehler bestand darin, ihre grundsätzlich taktische Haltung in einer „Strategie“ zu verankern, die – von den Details abgesehen – im Wesentlichen vorschrieb, so lange abzuwarten, bis eindeutige und aktuelle Inflationsanzeichen zu erkennen waren. Dies war aus zwei Gründen falsch. Erstens, weil der geldpolitische Kurs bereits aus dem Gleichgewicht geraten war und negative Zinssätze in Ermangelung von Deflationsrisiken nicht gerechtfertigt waren. Der zweite Grund war, dass die besonderen Unwägbarkeiten, die mit der Entwicklung der Pandemie verbunden waren, die Aufrechterhaltung von Flexibilität erforderten, um auf alle unvorhergesehenen Ereignisse reagieren zu können, einschließlich eines unerwartet schnellen Ausstiegs. Eine in Stein gemeißelte abwartende Haltung erschwerte dies.
Taktik des Abwartens
Die perfekte Gelegenheit, die Situation zu bereinigen, bot sich Ende 2021, als das Wachstum in der Eurozone stärker ausfiel als erwartet und sich erste Anzeichen eines breit angelegten Preisanstiegs abzeichneten. Zu diesem Zeitpunkt waren negative Zinssätze mehr denn je fehl am Platz und eine Korrektur erforderlich. Dann trat der zweite und damit verbundene Fehler ein: Indem man an der Taktik des Abwartens festhielt, wurde diese Gelegenheit verpasst.
Das eigentliche Problem der EZB besteht darin, dass eine Abschwächung des expansiven Kurses zu einer erneuten Fragmentierung der Eurozone führen könnte. Das „Monster“, das den Politikern und Politikerinnen während der Krise von 2010 bis 2012 den Schlaf raubte, macht sich wieder bemerkbar, wobei der Spread für italienische Staatsanleihen inzwischen auf 200 Basispunkte gestiegen ist – also auf das Niveau von Anfang 2011. Dem existenziellen Risiko für den Euro, das die Fragmentierung der Eurozone mit sich bringt, ist entschlossen entgegenzutreten, um nicht die gesamte Geldpolitik zu Fall zu bringen.
Wie EZB-Präsidentin Christine Lagarde in ihrem Blogbeitrag vom 23. Mai betonte, bedeuten unveränderte Zinssätze bei steigender Inflation, sowohl der tatsächlichen als auch der erwarteten, eine weitere und unangemessene Ausweitung des geldpolitischen Kurses. Da die EZB daher mit der dringenden Anhebung ihres Leitzinses aus dem negativen Niveau fortfährt, sollte sie jedoch Flexibilität und „konstruktive“ Ambivalenz bei ihren Wertpapiermarktkäufen bewahren.
Es hat sich gezeigt, dass dieses Instrument gut gegen eine Fragmentierung wirkt. Die Käufe müssen nicht zwangsläufig stattfinden, um wirksam zu sein; die bloße Möglichkeit, dass sie stattfinden könnten, schafft auf dem Anleihemarkt die Art von wechselseitigem Risiko, das die Händler vorsichtig werden lässt. Der traditionelle „Sequenzierungsansatz“, der von der EZB grundsätzlich verlangt, die Anleihekäufe einzustellen, bevor sie die Zinsen anhebt, muss aufgegeben werden.
Die Folgen der EZB-Politik
Wie Bundesbankpräsident Joachim Nagel sagte, ist die Fragmentierung eine Einschränkung, sollte aber nicht das gesamte Mandat der EZB überlagern. Es handelt sich um ein technisches Problem – weil es die Wirkung der Geldpolitik beeinträchtigt – mit weitreichenden politischen Auswirkungen. Die Zentralbank hat mit ihrer unübertroffenen Fähigkeit zur Marktintervention beträchtliche Möglichkeiten, dieses Problem zu lösen. Kurz vor ihrem 24. Geburtstag und angesichts ihrer Erfahrung und ihres guten Rufs ist es an der Zeit, dass die EZB dieses Problem engagierter angeht.
Ignazio Angeloni ist Senior Fellow am Leibniz-Institut für Finanzmarktforschung SAFE und Research Fellow am Mossavar-Rahmani Center for Business and Government der Harvard Kennedy School.
In dieser Rubrik veröffentlichen wir Kommentare von führenden Vertretern aus der Wirtschafts- und Finanzwelt, aus Politik und Wissenschaft.