Moskau

Der Russe ist dem Russen ein Wolf

Bis heute existiert in Russland eine tiefe Skepsis gegen die Mitbürger, wie sie in der Sowjetdiktatur folgenschwer antrainiert worden ist. Das macht sich nicht zuletzt im Urlaub bemerkbar.

Der Russe ist dem Russen ein Wolf

Jetzt, wo die Russen auf ihre geliebten Urlaubsreisen verzichten müssen, da die Corona-Pandemie wieder aufgeflammt ist und zudem Impfungen mit russischen Vakzinen à la Sputnik V in weiten Teilen der Welt nicht anerkannt werden, können sie sich auch nicht über Aufeinandertreffen mit ihren Landsleuten im Ausland empören. Gemeinhin gehört aber genau das zur Urlaubsnachbesprechung zwingend dazu. Und gipfelt für gewöhnlich im stolz geäußerten Satz, dass man einen Platz in der Welt gefunden habe, an dem überhaupt keine Russen anzutreffen gewesen seien. Solche Plätze sind in den vergangenen beiden Jahrzehnten des Wohlstands immer seltener geworden. Was am meisten wiederum die Menschen aus dem Riesenland selbst ärgert. Denn einem zweiten Standardsatz zufolge „ist es nur dort schön und gut, wo wir Russen noch nicht waren“.

Es ist nun mal so, dass die Russen von sich selbst keine hohe Meinung haben – geschweige denn voneinander. Dessen muss man sich bewusst sein, wenn wieder einmal die so nächstenliebende russische Seele bemüht oder von oben aus politischen Gründen der starke nationale Zusammenhalt propagiert wird. Das Establishment gibt sich ja gern der Vorstellung hin, dass es unter sich ein homogenes Volk wie aus einem Guss hat, das umso leichter zu regieren und zu manipulieren ist. Und auch im Westen kursiert gern die Vorstellung, dass in diesem Riesenland eine starke Einheit Gleichgesinnter und einander Wohlgesonnener lebt.

Man sollte diesem Irrtum nicht aufsitzen und sich vor zu viel Pathos hüten. Bis heute existiert eine tiefe Skepsis gegen die Mitbürger, wie sie in der Sowjetdiktatur folgenschwer antrainiert worden ist. Das weiß natürlich auch das Establishment. Denn entgegen der landläufigen Meinung ist auch dieses alles andere als homogen und bei aller simulierten Einigkeit untereinander mächtig verfeindet. Nicht zufällig hat sich in der russischen Elitenforschung schon lange die Sichtweise durchgesetzt, dass Wladimir Putins wichtigste Funktion die ist, wie ein Schiedsrichter in seinem engsten Umfeld für Ausgleich und Abgrenzung zu sorgen, damit die mit politisch-ökonomischer Teilmacht ausgestatteten Figuren in Schach gehalten werden. Das ist einer der Gründe, warum man vor einem Rückzug Putins aus der Politik auch große Angst hat. Denn nicht nur der Wettkampf im Establishment würde unerbittlicher. Auch ist mit großen Racheaktionen zu rechnen, schließlich haben manche in den Verteilungskämpfen mehr verloren als andere – und einige einst mächtige Leute, die sich auf die Seite der Opposition geschlagen haben, alles.

Wie dem auch sei: Die unbeliebteste und daher am meisten gefährdete Spezies ist immer noch der Privatunternehmer. Wer mit Eigeninitiative Erfolg hat, gilt als verdächtig. Und das seit Jahrhunderten, wie auch die Literatur zeigt – etwa in den Dramen des Schriftstellers Anton Tschechow aus dem 19. Jahrhundert. Dieser erinnert übrigens als einer der wenigen daran, dass es in den damaligen Umbruchzeiten die Unternehmer waren, die mit dem Riecher für neue Geschäftsmöglichkeiten den Totaluntergang ererbter Güter abwendeten.

Würde sich die Einstellung zum innovativen Humankapital ändern, hätte Russland große Schätze zu bergen. Genau daran scheint Apurva Sanghi, Chefökonom der Weltbank für Russland, die Menschen erinnern zu wollen, wenn er nach fünf Jahren Arbeit vor Ort in seinem Abschiedskommentar für die Tageszeitung „Kommersant“ schreibt: „Die Weltbank hat eine unkonventionelle Analyse durchgeführt, um festzustellen, wie reich Russland ist. Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass die Quelle von Russlands Reichtum weder seine riesigen Reserven an natürlichen Ressourcen sind (so wichtig sie auch sind) noch seine physische In­frastruktur (so leistungsfähig ihre einzelnen Komponenten auch sein mögen). Der Reichtum Russlands liegt im Einfallsreichtum und der Kreativität seiner Menschen. In der Tat stammt fast die Hälfte des russischen Reichtums aus dem Humankapital – der gesammelten Erfahrung, dem Wissen und den Fähigkeiten seiner Menschen. Es folgen das Sachkapital (etwa ein Drittel) und das Naturkapital (etwa ein Fünftel).“ Jetzt müssen nur noch die Menschen selbst daran glauben.

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