Notiert in Moskau

Der schwarze Humor – und die nur scheinbare Loyalität

Der bewaffnete Aufstand des Warlords Jewgenij Prigoschin hat einige Eigenschaften der russischen Bevölkerung zu Tage treten lassen - unter anderem schwarzen Humor, aber auch eine nur scheinbare Loyalität einem starken Anführer gegenüber.

Der schwarze Humor – und die nur scheinbare Loyalität

Notiert in Moskau

Scheinbare Loyalität

Von Eduard Steiner

Für die Russen ist es durch durch den bewaffneten Aufstand des Warlords Jewgeni Prigoschin nur noch komplizierter geworden, sich bewusst zu werden, was denn da in Russland seit dem Beginn des Ukraine-Krieges vor sich geht. Auf weite Strecken reagierten die Bürger daher auch relativ gelassen, als sich Prigoschin mit seiner Söldnertruppe Wagner am 24. Juni Richtung Moskau in Bewegung gesetzt hatte, ehe er nach ein paar Stunden wieder umdrehte. „Sagt, war das jetzt ein Staatsstreich?“, machte alsbald ein Witz die Runde: „Nein, ein privater.“

Man ist von der russischen Bevölkerung durchaus gewohnt, dass sie so tun, als ginge sie das alles nichts an. Sie ist auch der Ansicht, dass sie von oben ohnehin nur zum Narren gehalten wird und die Informationen, die sie erhält, gelinde gesagt verkürzt sind. Diese Ansicht wurde wieder bestätigt, als diesen Montag bekannt wurde, dass sich Kremlchef Wladimir Putin schon am 29. Juni mit Prigoschin getroffen hatte. 35 Leute seien dabei gewesen, bestätigte der Kreml laut Nachrichtenagentur Interfax. Dabei hatte Putin die Wagner-Aufständischen zuvor als „Verräter“ bezeichnet. Und man war davon ausgegangen, dass Prigoschin in Belarus im Exil ist, nachdem ihn ja der belarussische Staatschef Alexander Lukaschenko eigenen Worten zufolge am 24. Juni erfolgreich zum Aufgeben überredet und aus Russland herausverhandelt hatte.

Auch darüber macht man sich in Russland längst lustig: Lukaschenko sei als Verhandler so begehrt, dass er sogar von Florentino Pérez, dem Präsidenten des Fußballklubs Real Madrid, gebeten worden sei, den französischen Fußballstar Kylian Mbappé zum Wechsel von Paris Saint-Germain nach Spanien zu überzeugen, heißt es in einem Witz.

Blickt man jedoch etwas tiefer, so hat sich im Zuge des Prigoschin-Aufstandes auch ein Phänomen gezeigt, das ernst ist und das man am besten versteht, wenn man sich den Dokumentarfilm „State Funeral“ des ukrainischen Regisseurs Sergej Loznitsa von 2019 ansieht. Mit neuem Archivmaterial werden Tod und Begräbnis des sowjetischen Diktators Stalin im Jahr 1953 behandelt. Die Gesichter der Russen zeigen im Film sehr wohl Trauer, aber noch mehr den blanken Horror. Angst, nach so vielen Terrorjahren verdächtige Emotionen zu zeigen. Und vor allem Horror vor der neuen Übergangsrealität, da unabsehbar ist, welchem neuen Anführer man blind wird folgen müssen. Denn dass man dem neuen und aktuell jeweils stärksten Chef im Interesse des eigenen Überlebens folgen muss, ist in der russischen Geschichte zur unumstößlichen Grundhaltung geworden, wesentlich unterbrochen nur in der Zeit zwischen dem Ende der 1980er Jahre (Perestroika) und den ersten Jahren von Putins Herrschaft.

Der Prigoschin-Aufstand und die sehr verdattert bis dysfunktional wirkende Staatsführung haben diese Grundhaltung wieder an die Oberfläche gebracht. Denn kaum jemand aus dem Establishment, das sonst zumindest in seiner Demonstration nach außen so monolithisch hinter Putin steht, stellte sich in den kritischen Stunden öffentlich hinter ihn. Auch niemand aus seiner Partei „Einiges Russland“. Und auch niemand aus der Bevölkerung, die diversen Umfragen zufolge zu 80% dem Präsidenten folgt, ging für ihn spontan und aus eigenem Antrieb auf die Straße.

Stattdessen wird bei vielen die in „State Funeral“ gezeigte Art Schreckzustand hochgekommen sein: Wem folgen, da Putin zu wanken schien? Und wie dabei keinem Irrtum aufsitzen? Der Ausweg aus dem Dilemma: Lieber keine Loyalitätsbezeugung dem bisher Stärksten gegenüber abgeben, wenn vielleicht schon ein Stärkerer das Sagen hat.

Putin kennt diese aus der Geschichte gewachsene Haltung nur zu gut. Er weiß: Wenn er weg ist, ist er in Russland mehr weg, als er im Westen weg wäre. Dann wird kein Mensch mehr für ihn aufstehen, obwohl sich über zwei Jahrzehnte lang kaum jemand ein Russland ohne ihn vorstellen konnte. Auch deshalb klammert sich Putin so sehr an die Macht. Vorerst ist er wieder einmal aus dem Schneider.

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