Russland

Der Staat schwimmt im Geld, Bürger versinken in Schulden

Durch die hohen Öl- und Gaspreise schwimmt der russische Staat im Geld. Nur bei den Menschen kommt es nicht an. Seit Jahren verlieren sie. Und leben daher auf Pump wie noch nie.

Der Staat schwimmt im Geld, Bürger versinken in Schulden

Von Eduard Steiner, Moskau

Der Rubel in der Staatskasse rollt. Und das in einer Fülle, wie sie das Land seit vielen Jahren nicht gesehen hat. Allein Erdöl, Russlands wichtigstes Exportgut, hat mit 85 Dollar je Fass Preise erreicht, die seit dem epochalen Preissturz 2014 – von zuvor 115 Dollar auf zwischenzeitlich unter 30 Dollar – nur ein einziges Mal kurz im Jahr 2018 zu registrieren waren. Die Notierungen für Erdgas, das zweitwichtigste Exportgut, liegen seit Wochen höher als in der Spitze des Rohstoffbooms 2008.

Einer Berechnung der Ratingagentur Fitch zufolge fließen dieses Jahr 125 Mrd. Dollar (9 Bill. Rubel) an Einnahmen aus dem Öl- und Gasexport ins Budget bzw. in außerbudgetäre Fonds. Das seien fast 70% mehr als 2020 und sogar mehr als im Vorkrisenjahr 2019. Das füllt die finanziellen Polster: Die Gold- und Währungsreserven liegen seit zwei Monaten deutlich über 600 Mrd. Dollar – so hoch wie nie. Der Nationale Wohlfahrtsfonds, ein Puffer für härtere Zeiten, enthält 191 Mrd. Dollar, das entspricht 12% der Wirtschaftsleistung. Die Staatsverschuldung liegt nach wie vor unter 20%.

Ganz anders die Bürger: Weil der Staat seit dem Wirtschaftsschock 2014 an allen Ecken und Enden spart, spüren sie wenig vom Geldsegen. Dafür leben sie so sehr auf Pump, dass selbst die Zentralbank wiederholt Alarm geschlagen hat.

Die Schulden der Bevölkerung vor den Banken sind binnen eines Jahres um 26% gestiegen und haben 24 Bill. Rubel überschritten (siehe Grafik). Erstmals sind sie so hoch wie die Guthaben auf Rubelkonten. Abgesehen von Hypotheken ist vor allem bei Verbraucherkrediten das Tempo hoch. Letztere legten laut Zentralbank in den ersten acht Monaten des Jahres um 14% auf 11,1 Bill. Rubel zu. Der Rekord wurde im August aufgestellt, als 1,82 Millionen unbesicherte Konsumkredite im Wert von 646,7 Mrd. Rubel vergeben wurden.

Man hütet sich in Russland, das Wort Blase allzu schnell zu verwenden. Und doch ist längst nicht nur die Zentralbank hellhörig geworden. „Vielleicht ist die Situation noch nicht ganz kritisch“, sagt Igor Nikolajew, Chef des Moskauer FBK-Instituts für strategische und makroökonomische Analyse, im Gespräch mit der Börsen-Zeitung: „Aber die Tendenz ist es in jedem Fall. Und sie hält unvermindert an.“

Rückkehr zur Stagnation

Auf den ersten Blick scheinen Wirtschaft und Konsum zu laufen wie geschmiert. Die Wirtschaftsleistung schnellte nach der Corona-Rezession nach oben und übertraf im Juni saisonbereinigt das Vorkrisenniveau des vierten Quartals 2019. Auch die Konsumnachfrage erreichte ihr Vorkrisenniveau im ersten Halbjahr.

Doch der Schein trügt. Die Wirtschaft, die dieses Jahr wohl um 3% wächst, dürfte Prognosen zufolge 2022 zurück in den Stagnationsmodus verfallen, in dem sie sich seit einem halben Jahrzehnt befindet. Die Konsumnachfrage ist nicht von erwirtschaftetem, sondern zu zwei Dritteln von geliehenem Geld getrieben, wie einer Analyse der Raiffeisenbank zu entnehmen ist: „Die Beschleunigung bei den Konsumkrediten und das geringere Einlagenwachstum bleiben die entscheidenden Gründe für den gesteigerten Konsum“, heißt es. Eine heikle Entwicklung, „denn die real verfügbaren Einkommen gehen seit vielen Jahren zurück“, sagt Ökonom Nikolajew.

Der Paradigmenwechsel kam bereits 2014. Bis dahin hatte das ölpreis- und konsumgetriebene Wirtschaftsmodell für Perspektiven und steigende Löhne gesorgt. Der Ölpreisverfall von 2014 und die Sanktionen infolge der Krim-Annexion markierten das Ende dieses Modells. Weil sich dann aber das nötige innovationsgetriebene Modell aufgrund der Zurückhaltung aus- wie inländischer Investoren nicht einstellte, verfiel Russland nach der Rezession 2015 in eine anhaltende Stagnation. Das Bruttoinlandsprodukt stieg zwischen 2013 und 2020 laut Statistikamt im Schnitt jährlich mit nur noch 0,5%. Und: Die real verfügbaren Einkommen sanken seither um über 10%.

Notenbank strafft und strafft

Staatschef Wladimir Putin nannte neulich die niedrigen Einkommen, die monatlich im Schnitt nur einige hundert Euro betragen, den „Hauptfeind“ bzw. die größte Gefahr für das Land. Der Einkommenszuwachs sei heute die Hauptaufgabe, sagte er im US-TV-Sender CNBC.

Immerhin steigen Löhne und Beschäftigung derzeit wieder. Laut Wirtschaftsministerium aber nicht genug, um den vorjährigen Verlust zu kompensieren, so dass die Tendenz bei den real verfügbaren Einkommen gegenüber 2019 negativ bleibt. Denn inzwischen ist auch Russland von der weltweiten Inflation erfasst. Die Teuerung werde laut Ministerium dieses Jahr statt der bisher prognostizierten 5,8% 7,4% betragen. Teils liegt das freilich an hausgemachten Faktoren wie dem Importembargo auf Lebensmittel und dem Mangel an marktwirtschaftlicher Konkurrenz. Die Zentralbank, die als Inflationsziel 4% angibt, hat den Leitzins mehrmals angehoben, vor wenigen Tagen auf 7,5%. Zu Jahresbeginn waren es 4,25%.

Das alles macht die Kredite noch teurer. Den Kreditboom hat es aber nicht gebremst. Dies auch deshalb, da für viele das geborgte Geld zur Überlebensfrage geworden ist. Wie Alexander Dokukin vom Moskauer Hilfezentrum für Kreditschuldner in einem Interview sagte, bezahlen etwa 20% der Russen eine medizinische Behandlung mit einem Kredit, 18% die Ausbildung der Kinder und deutlich mehr noch die Zinsen eines bereits laufenden Darlehens. Das betreffe auch immer mehr Rentner. Für die meisten bleibe nur ein Privatkonkurs als Ausweg.

Kein Wunder angesichts durchschnittlicher Kreditzinsen von 10 bis 14%. Um dem Teufelskreis zu entkommen und die Einkommen der Menschen endlich zu erhöhen, müsste wohl an vielen Stellschrauben gedreht werden. Unter anderem könnte der Staat seine eiserne Sparwut hinterfragen, meint Ökonom Nikolajew. „Der Staat spart für den sogenannten Schwarzen Tag. Aber wann wird er schwarz genug sein, damit die Regierung auch wieder mehr Geld ausgibt?“

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