Brüssel

Der steinige Weg in die Europäische Union

In Brüssel befürchten Diplomaten, dass eine schnelle Ernennung der Ukraine zum EU-Beitrittskandidaten die Staaten des Westbalkan düpiert, die auf eine solche Entscheidung zum Teil mehr als zehn Jahre warten mussten.

Der steinige Weg in die Europäische Union

Nur vier Tage nach dem russischen Überfall hat die Ukraine Ende Februar einen Mitgliedsantrag bei der Europäischen Union eingereicht. Georgien und die Republik Moldau folgten mit eigenen Anträgen nur wenige Tage später, was in Brüssel seither Grundsatzdebatten über den üblicherweise viele Jahre dauernden Beitrittsprozess und die zu Grunde liegenden Kriterien hierfür ausgelöst hat. Denn meist läuft es ja nicht so wie im Falle Finnlands, das nach einem Prozess von nur drei Jahren am 1. Januar 1995 in die Union aufgenommen wurde. Bei Kroatien, das 2013 als bislang letztes Land in die EU aufgenommen wurde, hatte der Prozess zehn Jahre gedauert.

Und auch ein Blick auf die aktuell von der EU geführten fünf offiziellen Beitrittskandidaten zeigt ein anderes Bild: Serbien und Albanien haben ihre Anträge bereits 2009 gestellt, Montenegro 2008, Nordmazedonien 2004, und das Beitrittsgesuch der Türkei feiert aktuell seinen 35. Geburtstag: Es stammt aus dem Jahr 1987. Die Beitrittsverhandlungen zwischen Ankara und Brüssel – die auf Eis liegen – begannen dann tatsächlich erst im Jahr 2005.

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Die Bundesregierung, aber auch zahlreiche andere Länder wie die Niederlande oder Finnland warnen davor, im Falle der Ukraine sowie bei Georgien und Moldawien den eigentlichen Fahrplan für eine Aufnahme abzukürzen. Denn klar ist, dass ein Beitrittskandidat erst einmal die sogenannten „Kopenhagener Kriterien“ erfüllen muss. Und dies bedeutet: Die Stabilität der Institutionen, von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten sowie die Achtung und der Schutz von Minderheiten müssen gesichert sein. Gerade die Rechtsstaatsdebatten mit Polen und Ungarn der vergangenen Jahre dürften dazu führen, dass hier in Zukunft keinerlei Zugeständnisse mehr möglich sind, wie etwa beim Korruptionspro­blem, das der Ukraine immer wieder anhaftet.

Eine funktionierende Marktwirtschaft gehört ebenso zu den unverrückbaren EU-Kriterien wie die Übernahme der gemeinschaftlichen Regeln, Standards und Politiken. Dazu kommt noch das Kriterium der Aufnahmefähigkeit der EU selbst – was etwa im Falle der Westbalkan-Länder in jüngster Zeit auch von Frankreich immer wieder in Frage gestellt wurde.

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Für die betroffenen Länder ist dies natürlich zunehmend frustrierend, vor allem da aus verschiedenen EU-Ländern immer wieder neue Vetos und Forderungen an­kommen. Zuletzt versuchten die Staats- und Regierungschefs der EU bei einem Gipfeltreffen im Oktober vergeblich, mehr Klarheit in den weiteren Prozess zu bringen. Doch zum eigentlich längst ausstehenden Start der Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien konnten sich die Chefs erneut nicht durchringen. In Brüssel wird in Kommission und Parlament längst darauf hingewiesen, dass nicht nur die EU-Begeisterung im Westbalkan schon abgenommen hat, sondern auch die russische und chinesische Propaganda und gezielte Anti-EU-Desinformation in der Region zu wirken beginnt. Der Ukraine jetzt zu schnell einen offiziellen Status als Beitrittskandidaten zu verleihen, so befürchten nicht wenige, könnte die Westbalkan-Staaten zusätzlich düpieren. Auf einen solchen Status musste Nordmazedonien beispielsweise elf Jahre lang warten.

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Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hofft dagegen, dass der Europäische Rat einen offiziellen Kandidatenstatus aus Solidarität vielleicht schon im Juni billigen wird. Er hat in dieser Woche einen ersten Fragebogen der EU-Kom­mis­sion zu den Themen Politik und Wirtschaft ausgefüllt nach Brüssel zurückgeschickt. Ein zweiter Fragenkomplex zur Übernahme von EU-Recht soll in Kürze folgen. Jeder Staat, der der EU beigetreten sei, habe das gleiche Verfahren mit dem Fragebogen durchlaufen, sagte Selenskyj. „Der einzige Unterschied ist, dass es bei ihnen Jahre gedauert hat. Bei uns war es nur etwas mehr als eine Woche.“ So energisch hat schon lange niemand mehr an die Brüsseler Tür geklopft.