Folgen der Havarie

Der Suez-GAU dürfte Monate nachwirken

Das Gefühl der Erlösung dürfte neuen Sorgen weichen: Der Suezkanal ist wieder frei – doch die Havarie hat die Weltwirtschaft zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt ereilt. 

Der Suez-GAU dürfte Monate nachwirken

Von Stefan Reccius, Frankfurt

„Wir haben es geschafft!“ Am Montagnachmittag ließ Peter Berdowski, CEO des niederländischen Konzerns Boskalis, die erlösende Botschaft in die Welt hinausschicken: Die Spezialisten der Boskalis-Tochter Smit Salvage haben die im Suezkanal auf Grund gelaufene „Ever Given“, eines der größten Frachtschiffe der Welt, befreit. In der Nacht hatte ein Schlepper das Heck des havarierten Ozeanriesen zunächst aus dem Kanalboden gezogen. Am Ufer schaufelte ein Bagger, der im Schatten des Riesenfrachters wie ein Exemplar aus dem Miniaturwunderland wirkte, so unverdrossen wie mühselig weiter, bis sich auch der Bug des feststeckenden Frachters aus Zehntausenden Kubikmetern Sand löste. Die vor einer Woche alarmierten und aus aller Welt herbeigeeilten Bergungstrupps haben ganze Arbeit geleistet.

Das allzu verständliche Gefühl der Erlösung wird allerdings schnell neuen Sorgen weichen. Denn der Suez-GAU dürfte über Monate nachwirken. Bis Montag stauten sich nach Angaben der ägyptischen Kanalbehörde 370 Schiffe im und vor dem Suezkanal, unabhängige Beobachter gingen von mehr als 400 Schiffen aus. Stündlich kamen weitere hinzu, weil Reeder nicht alle Frachter umleiten können oder wollen. Als erste ermutigende Meldungen aus Ägypten kamen, warnte die größte Container-Reederei Mærsk umgehend ihre Kunden: Bis sich der Frachterstau aufgelöst haben werde, könnten „sechs Tage oder mehr“ vergehen. „Die Auswirkungen auf die weltweiten Kapazitäten und Anlagen sind beträchtlich, und die Blockade hat bereits eine Reihe weiterer Unterbrechungen und Rückstände in der weltweiten Schifffahrt ausgelöst, deren Beseitigung Wochen, möglicherweise Monate dauern könnte.“

Container knapp und teuer

Kurzfristig strömen nun Hunderte Containerkolosse gleichzeitig auf die Häfen zu. Die sind aber zum Teil bereits an ihren Kapazitätsgrenzen oder darüber hinaus. Der globale Warenverkehr, der zu 90% auf dem Seeweg abgewickelt wird, läuft seit Monaten auf Hochtouren. Das belegt der Containerumschlag-Index des Essener RWI Leibniz-Instituts für Wirtschaftsforschung und des Bremer Instituts für Seeverkehrswirtschaft und Logistik (ISL), der jeden Monat veröffentlicht wird und der Börsen-Zeitung vorab vorliegt: Im Februar ist der Index, der circa 60% des weltweiten Containerumschlags über 91 Großhäfen erfasst, saison- und arbeitstäglich bereinigt auf 123,0 Punkte gestiegen. Das ist der höchste je gemessene Wert und toppt die nach oben revidierten 122,2 zum Jahresstart um weitere 0,8 Punkte. Weil Container seit Monaten knapp sind und Engpässe etwa bei Halbleitern vor allem der Autoindustrie zusetzen, sind die Lieferzeiten speziell für die europäische Industrie in ungekannte Höhen geschnellt. So angespannt war die Lage für Logistiker nicht einmal vor einem Jahr, als zu Beginn der Pandemie der Welthandel kollabierte (siehe Grafik).

Die Havarie der „Ever Given“ mit ihren 400 Metern Länge und 20000 Containern Fassungsvermögen hat die Weltwirtschaft zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt ereilt. Für die Ökonomen von Allianz und Euler Hermes um Chefökonom Ludovic Subran ist es „der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt“. Schon die vorherigen Engpässe dürften in der laufenden Erholungsphase 1,4 Prozentpunkte vom Wachstum des Welthandels abzwacken. Nach einem annähernd zweistelligen Einbruch im Vorjahr sei 2021 nun noch mit einem Plus von 7,9% zu rechnen. Für die Weltwirtschaft kommen auf Einbußen von hochgerechnet 230 Mrd. Euro geschätzt 6 bis 10 Mrd. Euro obendrauf je Woche, die der Suezkanal blockiert ist. Der fast einwöchige Stillstand dürfte die ohnehin exorbitant hohen Frachtkosten treiben. Besonders teuer ist es derzeit, Waren aus China und Ostasien nach Nordeuropa zu verschiffen. Ein Standardhochseecontainer kostete zuletzt mehr als 8000 Dollar, mehr als das Fünffache der üblichen Rate. Auch Tausende leere Container steckten tagelang fest.

Sämtliche Schiffe auf dieser Route müssen den Suezkanal passieren. Es gibt bislang schlicht keine verlässlich befahrbare Route, die auch nur annähernd so zügig zu bewältigen wäre. Der 5000 Kilometer lange Umweg über das Kap der Guten Hoffnung an der Südspitze Afrikas „würde die Handelskosten auf dem Seeweg zwischen China und Europa um mindestens 30% steigen lassen“, sagt Vincent Stamer, Handelsexperte des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW).

Die 193 Kilometer lange Passage zwischen Rotem Meer und Mittelmeer passierten 2019 19000 Schiffe mit 1,25 Mrd. Tonnen Fracht. Das entspricht etwa einem Achtel des weltweiten Warenverkehrs, wie Allianz und Euler Hermes anhand offizieller Statistiken vorrechnen. Nach Berechnungen des IfW verschiffen deutsche Firmen Güter im Wert von 121 Mrd. Euro jährlich nach Asien, vor allem Autos und Maschinen. Umgekehrt kämen bis zu 10% der direkt verwendeten Vorleistungen der Elektronikbranche aus den sechs größten Volkswirtschaften Asiens. Die Chemieindustrie bezieht nach eigenen Angaben 16% ihrer Importe aus Asien durch den Suezkanal, in die andere Richtung fließen 18% der Chemie-Exporte wie Industriegase, Düngemittel, Farben, Kunststoffe, Pflanzenschutzmittel und Klebstoffe. Industrieverbände warnte deshalb vor Versorgungsengpässen.