Der US-Außenhandel mutiert zur Wachstumsstütze
Von Peter De Thier, Washington
In den USA gehören hohe Handelsbilanzdefizite seit Jahrzehnten zur Tagesordnung. Die Wirtschaft des „Importweltmeisters“ stützt sich überwiegend auf Verbraucherausgaben, und mehr als drei Viertel der Güter, die konsumiert werden, kommen aus dem Ausland. So gesehen ist es kein Wunder, dass vergangenes Jahr der Fehlbetrag beim Warenhandel erstmals die Marke von 1 Bill. Dollar überstieg und so einen neuen Rekordstand erreichte. Der Trend scheint sich nun aber mit beeindruckendem Tempo umzukehren. Das Wachstum im Außenhandel und der damit einhergehende Rückgang des Defizits könnten nach Ansicht einiger Experten dazu beitragen, dass in den kommenden 18 Monaten eine Rezession abgewendet werden kann.
Nach dem kurzen, aber tiefen Konjunktureinbruch, der 2020 durch die Corona-Pandemie ausgelöst wurde, hat sich die US-Wirtschaft wieder kräftig erholt. Vergangenes Jahr legte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um 5,7% zu. Ohne den Fehlbetrag im Außenhandel, der bei 1,1 Bill. Dollar lag und die Rekordhöhe von 861 Mrd. Dollar erreichte – wenn auch der Überschuss bei Dienstleistungen berücksichtigt wird –, wäre die Wirtschaft aber um mehr als 7% gewachsen. Der Passivsaldo im Handel zog nämlich 1,4 Prozentpunkte vom BIP ab – der höchste Anteil, der je gemessen wurde.
Nachdem viele Experten vorausgesagt hatten, dass sich die Abwärtsspirale –- so schoss das Defizit vergangenes Jahr um 27% in die Höhe – 2022 beschleunigen würde, wartete das Bureau of Economic Analysis (BEA) des Handelsministeriums zuletzt mit einer großen Überraschung auf: Im April schrumpfte das Defizit um mehr als 19%. Ian Shepherdson, Chefvolkswirt bei Pantheon Macroeconomics, sieht darin den möglichen Vorboten einer Trendumkehr. „Aufgrund eines so signifikanten Rückgangs ist davon auszugehen, dass der Handel im zweiten Quartal einen kräftigen positiven Beitrag zum Wachstum leisten wird“, sagt Shepherdson voraus.
Der Hauptgrund dafür ist in jenem Hang zur „Deglobalisierung“ zu sehen, der in den USA nach dem Ausbruch der Pandemie zu beobachten war und der sich weiter fortsetzt. Wie aus einer Studie des Economic Policy Institute (EPI) hervorgeht, ist es nämlich keineswegs der große Appetit auf importierte Güter, der für das hohe Defizit verantwortlich ist. Laut EPI lassen sich fast 99% des Fehlbetrags darauf zurückführen, dass es an der inländischen Produktion der begehrten Industrieerzeugnisse mangelt.
Unfaire Wettbewerbsvorteile
Demnach weisen jene Länder, die seit Jahren eine Industriepolitik verfolgen, die die heimische Produktion fördert, konstant die größten Handelsüberschüsse auf – unter anderem China, die Europäische Union (EU) und Südkorea. Die Mittel sind Investitionen in die Infrastruktur und neue Produktionsstätten, steuerliche Anreize und in vielen Fällen auch protektionistische Maßnahmen, die der eigenen Ausfuhrwirtschaft Wettbewerbsvorteile verschaffen. Wie der Nationalökonom Robert E. Scott argumentiert, müssten US-Politiker daher „effektivere Buy-American- Maßnahmen umsetzen, die den Kauf inländischer Güter begünstigen, und darüber hinaus industrie- sowie handelspolitische Vorstöße unternehmen, welche die oft unfaire Handels- und Wechselkurspolitik unserer Handelspartner ausgleichen“.
Während die heillos zerstrittenen Demokraten und Republikaner sich schwertun, neue Gesetzesvorhaben auf die Beine zu stellen, ist zwischenzeitlich die Industrie aus freien Stücken aktiv geworden. Wie aus einer Studie der Bank of America (BoA) hervorgeht, haben im ersten Quartal des laufenden Jahres die S&P-500-Unternehmen ihre industriellen Investitionen um 20% gesteigert. Ausgelöst wurde dies laut BoA durch Unterbrechungen in den globalen Lieferketten, zuletzt den russischen Angriffskrieg in der Ukraine, die hohe Inflation und andere „Störfaktoren“.
Stellvertretend für den Trend ist die Entscheidung des Chipherstellers Intel, in Ohio 20 Mrd. Dollar in ein neues Werk zu investieren, das die Abhängigkeit von importierten Halbleitern verringern soll. Auch andere Branchen, die in den vergangenen zwei Jahren unter den Lieferkettenstörungen gelitten haben, könnten dem Beispiel folgen. Wie Lourenco Goncalves, Vorstandschef des Stahlkonzerns Cleveland-Cliffs, sagt, stellt die Deglobalisierung einen Paradigmenwechsel dar: „Es handelt sich um dem wichtigsten Wandel, dem sich die US-Industrie in den letzten Jahrzehnten unterzogen hat.“
Ökonomen und führende CEOs wie Jamie Dimon von J.P. Morgan halten die Gefahr eines Konjunktureinbruchs für akut, erst recht angesichts der Kursverschärfung seitens der Fed. Goncalves ist ebenso wie zahlreiche Ökonomen der Auffassung, dass ausgerechnet der Außenhandel, lange Zeit aufgrund der hohen Defizite ein Klotz am Bein der US-Wirtschaft, helfen könnte, zu verhindern, dass diese in eine Rezession abgleitet. Tim Quinlan, Ökonom bei der Wells Fargo Bank, glaubt, „dass die fortgesetzte globale Erholung und die gedämpfte Inlandsnachfrage in den USA zur Folge haben werden, dass der Außenhandel zum ersten Mal seit fast 50 Jahren einen neutralen Beitrag zum Wachstum leisten wird“ – und längerfristig sogar positiv zu Buche schlagen könnte.