Die große Flut von Delistings an der Mailänder Börse
Von Gerhard Bläske, Mailand
An der Mailänder Börse gib es in diesen Wochen eine regelrechte Flut von Delistings. Diego Della Valle, Chairman und Mehrheitsaktionär des Modekonzerns Tod’s, hat gerade angekündigt, das Unternehmen von der Börse nehmen zu wollen. Er hat den Minderheitsaktionären, die 26,4% der Anteile kontrollieren, ein Angebot über 338 Mill. Euro unterbreitet. Nur LVMH-Großaktionär Bernard Arnault soll seine 10% behalten. Della Valle begründet das Delisting damit, die Entwicklung von Tod’s beschleunigen zu wollen, indem er einzelne Marken besser zur Geltung bringe. Das gehe außerhalb der Börse besser.
Tod’s ist nicht das einzige Unternehmen, das die Borsa Italiana verlässt. Das Delisting des zu 33% von der Benetton-Familienholding Edizione kontrollierten Infrastrukturkonzerns Atlantia steht unmittelbar bevor. Edizione wird künftig die Mehrheit bei Atlantia halten. Größere Anteile erwirbt Blackstone. Die börsennotierte Holding Exor der Familie Elkann/Agnelli mit großen Beteiligungen an Ferrari, CNH Industrial, Iveco, Stellantis und Juventus Turin verlässt die Mailänder Börse Richtung Amsterdam und das Delisting des Fußballclubs AS Rom steht unmittelbar bevor. In den letzten Monaten hatten bereits Falck Renewables, Cerved und der Verpackungshersteller Stevanato die Börse verlassen. Sie folgten auf IMA, den Kaffee- und Getränkekonzern Massimo Zanetti Beverages (Segafredo), den Spezialtraktorproduzenten Carraro, Guala (Verpackungen) und die Infrastrukturholding ASTM. Der Modekonzern Zegna wählte für sein IPO von Anfang an New York statt Mailand, ebenso wie 1990 der Brillenriese Luxottica. Prada ist in Hongkong notiert.
Zahlreiche andere Unternehmen verschwanden oder verschwinden infolge von Übernahmen vom Börsenzettel. Die Genueser Sparkasse Carige wird gerade von BPER geschluckt, Creval wurde vom Crédit Agricole übernommen, Ubi von Intesa Sanpaolo, Cattolica landete bei der Generali. Auch Cellularline, Piteco und andere wurden übernommen. Die Raststättenkette Autogrill wird von der Schweizer Dufry aufgekauft.
Nach Berechnungen der Zeitung „Il Sole 24 Ore“ verlor die Börse Mailand durch Delistings allein in den letzten sechs Monaten eine Kapitalisierung von 47 Mrd. Euro. Zusammen mit den 55 Mrd. Euro, die die Borsa in den fünf Jahren zuvor an Kapitalisierung verlor, sind das mehr als 100 Mrd. Euro: Bei einer Gesamtkapitalisierung von 643 Mrd. Euro (8. August) ist das ein nicht unerheblicher Aderlass. Delistings sind auch eine globale Entwicklung, weil Investoren nach attraktiven Anlagemöglichkeiten suchen. Es ist aber auch auf die generelle Schwäche des italienischen Aktienmarkts zurückzuführen. Die Börsenkapitalisierung im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt liegt mit 37% weiter unter den Werten Deutschlands (62%), Frankreichs (128%) oder der Niederlande (143%). Nach einer Untersuchung der Investmentbank Intermonte mit dem Politecnico von Mailand hat es in den vergangenen 20 Jahren 448 neue Notierungen an der Borsa Italiana gegeben, aber auch 336 Delistings. Allerdings: Während bei den Delistings viele große Werte verloren gingen, überwiegen bei den neuen Notierungen kleinere Werte des Small- und Mid-Cap-Segments Euronext Growth Milan. Zum Stichtag 8. August waren in Mailand 416 Unternehmen notiert, davon 233 bei Euronext Milan und 183 bei Euronext Growth Milan.
Euronext Milan hat den Angaben zufolge innerhalb von 20 Jahren 268 Delistings verzeichnet, aber nur 185 neue Listings. 29% der Delistings sind der Untersuchung zufolge auf wirtschaftliche Gründe und Konkurse zurückzuführen, etwa 30% verschwanden infolge von Übernahmen, 14% infolge von Restrukturierungen und 26% verließen die Börse auf eigenes Betreiben hin.
In diesem Jahr gab es mit Iveco, De Nora und Technoprobe nur drei größere IPOs. Der Mineralölkonzern Eni hat den Börsengang der im Bereich erneuerbare Energien tätigen Tochter Plenitude vorerst verschoben. Die Borsa Italiana hat nur wenige Börsenschwergewichte wie den Versorger Enel, Eni, die Großbanken Intesa Sanpaolo und Unicredit, die Versicherung Generali und Ferrari aufzuweisen. Es kommt hinzu, dass der Free Float der börsennotierten Unternehmen Italiens mit 60% sehr gering ist. Rom hält direkt oder über die mehrheitlich staatliche Förderbank Cassa Depositi e Prestiti (CDP) teilweise hohe Beteiligungen an börsennotierten Schwergewichten wie Enel, Eni, am Baukonzern Webuild, am Zahlungsdienstleister Nexi, am Rüstungskonzern Leonardo oder an der Bank Monte dei Paschi di Siena. Der Staat ist bei acht der 20 größten Börsenwerte dabei. Dazu kommt, dass viele Unternehmer nach einem Börsengang die Mehrheit an ihren Unternehmen behalten wollen.
Hoffnung auf Dual Listings
Für Italien wäre es wichtig, dass die Börse stärker zur Finanzierung von Zukunftsprojekten im Rahmen des europäischen Wiederaufbauprogramms im Bereich der Digitalisierung oder der erneuerbaren Energien beiträgt. Die Zulassungsbedingungen für das Euronext-Growth-Segment wurden deshalb erleichtert. Ob sich die Hoffnungen erfüllen, ist fraglich. Vielleicht planen wenigstens mehr Unternehmen ein Dual Listing. Prada soll darüber nachdenken.