Die Patent-Schimäre
Die einen lästern über einen billigen „PR-Trick“, andere schimpfen über ein „Lehrbuchbeispiel für Populismus“: Der plötzliche Vorstoß von US-Präsident Joe Biden, sich für einen vorübergehenden Verzicht auf den Patentschutz für Impfstoffe gegen das Coronavirus starkzumachen, erhitzt diesseits des Atlantiks die Gemüter. Bidens Kehrtwende hat die Europäer kalt erwischt. Auf einmal stehen sie als kaltherzige Kapitalisten da, die in Zeiten weltumspannender Not Solidarität verweigern, während Biden die USA als gütige Großmacht inszeniert. Dabei sind es doch die Europäer, wie EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen nicht müde wird zu betonen, die anders als die USA von Anfang an Vakzine in beträchtlicher Menge zum Export freigegeben haben. Das deprimierende Gefühl, düpiert worden zu sein, erklärt die heftige Immunreaktion des politischen Organismus in der EU.
Klar ist: Es muss etwas passieren, und zwar zügig. Während die reichen Volkswirtschaften entschlossen auf Herdenimmunität bis zum Herbst zusteuern, haben sie über die Impfallianz Covax zwar rund 2 Milliarden Impfstoffdosen für Entwicklungsländer in Aussicht gestellt. Doch diese zugesagte Menge wird gerade einmal für etwa ein Viertel der Bevölkerung reichen in Ländern, die finanziell, logistisch und technologisch nicht in der Lage sind, eigene Impfkampagnen in großem Stil aufzuziehen. Dutzende Staats- und Regierungschefs haben sich deshalb telefonisch mit Hilfeersuchen an Biden gewandt, wie der US-Präsident dieser Tage Berichten zufolge in einer Videokonferenz mit Gouverneuren erzählte.
Die Not ist groß. Lindern wird sie eine Aufhebung von Patenten nicht. Es spricht wenig dafür, dass ein solcher Schritt die von den Befürwortern beabsichtigte Wirkung erzielen würde. Das Hauptproblem sind nicht Eigentumsrechte oder fehlender Wettbewerb, sondern zu geringe Produktionskapazitäten, knappe Rohstoffe und gestörte Lieferketten. Der Aufbau neuer Anlagen benötigt Zeit und spezielles Know-how der Impfstoffentwickler. Mit Hilfe von Lizenzen die Zusammenarbeit der Pioniere mit neuen Partnern zu forcieren ist daher der erfolgversprechendere Weg. Unabdingbare Voraussetzung ist zudem, dass Exportbarrieren nicht nur für fertige Impfstoffe, sondern auch für – häufig ebenfalls patentgeschützte – Vorprodukte und medizinisches Schutzmaterial fallen. Das geht an die Adressen der USA und Großbritanniens.
Keinesfalls außer Acht lassen darf die Politik auch, dass ein Aufweichen des Patentschutzes langfristig fatale Folgen haben dürfte. Denn das Recht am geistigen Eigentum und der Schutz vor Nachahmern ist gerade in der forschungsintensiven Pharmaindustrie für Unternehmen jeglicher Größe der wichtigste Anreiz, Milliarden in den wissenschaftlichen Fortschritt zu investieren. Ja, bei der Coronakrise handelt es sich um eine außergewöhnliche Notlage, die außergewöhnliche Mittel erfordert. Allerdings nimmt nach Auffassung von Experten mit dem Klimawandel die Wahrscheinlichkeit derartiger Pandemien zu. Stutzen Jungunternehmen und Konzerne nun ihre Forschungsbudgets, weil sie befürchten müssen, dass eine erzwungene Patentfreigabe kein einmaliger Vorgang bleibt, wird das unweigerlich die Reaktion auf künftige Krisen erschweren. Der Patent-Vorstoß entpuppt sich bei genauerem Hinsehen nicht nur als Schimäre, sondern zöge langfristig nicht beabsichtigte, weitreichende Konsequenzen nach sich.
Für das von Indien und Südafrika bei der Welthandelsorganisation (WTO) lancierte Vorhaben ist die Unterstützung der USA ein Meilenstein. Das wird aber nicht zu einem raschen Abschluss führen. Denn das Grundprinzip der WTO ist der Konsens. Zwar haben sich mehrere Regierungen in der Europäischen Union mit dem Vorhaben solidarisiert. Es gibt aber auch Widerstand, etwa von Seiten der EU-Kommission und der Bundesregierung. Und in Genf verhandeln Vertreter aus Brüssel im Namen aller EU-Staaten. Die Gespräche dürften also zäh bleiben, wenn Indien und Südafrika dem Vernehmen nach noch in diesem Monat einen Kompromissvorschlag auf den Tisch legen.
Die Motive Washingtons im Patentstreit sind mindestens so sehr geopolitischer wie humanitärer Natur. Die anfangs von Peking und Moskau ausgehende neuartige Disziplin der Impfstoffdiplomatie hat nun auch die US-Regierung für sich entdeckt. Den politischen Protagonisten in Brüssel und Berlin wird das klar sein. Sie müssen diese Taktiererei aushalten – und stattdessen mit stichhaltigen Argumenten für ein stimmiges Gesamtpaket eintreten, das wirklich hilft.