Die Tragik der WTO
Schlechter könnten die Vorzeichen kaum sein. Erst ist mit der Pandemie die Weltwirtschaft aus den Fugen geraten, dann mit dem Ukraine-Krieg die Weltpolitik. Inmitten eklatanter Lieferkettenverwerfungen, aufziehender Hungersnöte und barbarischer Kriegstreiberei hält die Welthandelsorganisation (WTO) ihr überfälliges Gipfeltreffen ab. Am Hauptsitz der WTO in Genf tagen ab Sonntag die Protagonisten der globalen Handelspolitik – wegen des Coronavirus mit zwei Jahren Verzug. Vielleicht inspiriert sie die Idylle des Genfer Sees zu ungeahnten Großtaten. Wahrscheinlicher ist, dass die mehr als 100 Ministerinnen und Minister nach mehreren Nachtschichten unverrichteter Dinge und im Zustand maximaler Erschöpfung die Heimreise antreten.
Das Gipfeltreffen droht die Tragik der WTO auf offener Bühne sichtbar zu machen: Just in dem Moment, da sie am meisten gebraucht wird, erscheint sie handlungsunfähiger denn je. Selten waren gemeinschaftliche Absprachen in einem Forum von 164 Handelsnationen so dringlich. Es gilt, ein Nahrungsmitteldrama abzuwenden. Den Zugang zu Impfstoffen gerechter zu gestalten. Dem Überfischen der Weltmeere Einhalt zu gebieten. Den Handel mit Daten und digitalen Dienstleistungen zu modernisieren. Die Streitbeilegung wiederzubeleben. Und, und, und.
In der neuen Realität wird ihr radikales Konsensprinzip zum Verhängnis: Der Abschied vom Multilateralismus und der Rückbau der Globalisierung lähmen die WTO. Beispielhaft für die Misere ist das vergebliche Ringen um einen Kompromiss im Streit über Impfstoffpatente. Die Diskussionen um das von Indien und Südafrika angestoßene Vorhaben, den Schutz des geistigen Eigentums für die Dauer der Pandemie auszusetzen, ziehen sich seit mehr als anderthalb Jahren. Eine Minderheit, angeführt von der EU-Kommission, ist gegen den Patentverzicht und plädiert – aus guten Gründen – für mildere Mittel. WTO-Chefin Ngozi Okonjo-Iweala gibt sich kämpferisch – und vermittelt doch den Eindruck von Zweckoptimismus.
Zumal die Impfstoffhersteller längst weiter sind. Die Realität hat die WTO einmal mehr überholt: Die betroffenen Unternehmen, allen voran das deutsch-amerikanische Erfolgspaar Biontech/Pfizer, schaffen fleißig Fakten, indem sie auf dem afrikanischen Kontinent Produktionsstätten hochziehen und Lizenzvereinbarungen abschließen. Die Verfügbarkeit von Impfstoffen ist im dritten Jahr der Pandemie nicht mehr das eigentliche Problem. Vielmehr fehlt vielerorts medizinische Infrastruktur und die Bereitschaft der Bevölkerung zum Impfen.
Die WTO darf sich zugutehalten, einen gewissen Handlungsdruck bei den Unternehmen erzeugt zu haben. Aufschlussreicher sind die Hintergründe des Patent-Gerangels. Denn sie zeigen, dass es nicht (mehr) in erster Linie um Impfstoffe geht, sondern um politische Ränkespiele in einer Atmosphäre tiefsitzenden Misstrauens, um blanke Macht. Für Streit sorgt nämlich dem Vernehmen nach, wer von dem Patentverzicht Gebrauch machen darf. Die Chinesen wollen dazugehören: Sie zählen seit ihrem Beitritt zur WTO 2001 unverändert zu den Entwicklungsländern, für die gewisse Sonderrechte gelten. Die USA sperren sich gegen eine Sonderbehandlung Chinas beim Zugang zu Impfstoff-Know-how – weil sie fürchten, dass Peking bloß schamlos Ideenklau betreibt.
Seit Ex-US-Präsident Donald Trump den Handelskrieg vom Zaun gebrochen hat, erodiert die internationale Handelsordnung – und mit ihr die WTO. China und der Westen driften nach Jahrzehnten florierender Handelsbeziehungen, die politische Ungereimtheiten überdeckt haben, auseinander. Im Gleichschritt verbannen die EU und die USA Produkte aus Zwangsarbeit von ihren Importmärkten. Das zielt voll auf Chinas hinlänglich dokumentierte Verbrechen gegen die Uiguren. Überhaupt schließen Brüssel und Washington systematisch chinesische Unternehmen und Produkte aus, sei es wegen wettbewerbsverzerrender Subventionen oder aus Sorge um die nationale Sicherheit.
Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine zementiert diese Blockbildung in Ost und West. Die unerlässliche Reform der WTO-Streitbeilegung? Nach wie vor blockiert durch die USA, die sich auch unter Joe Biden weigern, vakante Stellen im Berufungsgremium zu besetzen. Ein zeitgemäßes Abkommen für den Diensthandel im Internet? Nicht in Sicht. Ein Kraftakt zur Ernährungssicherheit? Überlagert durch das Blame Game mit Russland und konterkariert durch immer neue Exportstopps für Lebensmittel in aller Welt. Dringend notwendige Updates für das Welthandelsrecht bleiben auf der Strecke.