Die Vermessung der Mitte
Europawahl
Die Vermessung der Mitte
Die Verschiebung der Demarkationslinie nach rechts birgt die Gefahr, dass Abgrenzungen unglaubwürdig werden.
Von Detlef Fechtner
Europa wählt. Und es ist auffällig, wie engagiert Industrie, Handel, Wirtschaft, Kreditinstitute, Notenbanken und Kommunen für die Europawahl trommeln – sei es in gemeinsamen Aufrufen von Verbänden, sei es auf Riesenplakaten mitten im Frankfurter Bankenviertel, sei es in großflächigen Zeitungsanzeigen. Die Botschaft lautet: Gehen Sie wählen, denn es geht um viel. Und ja, tatsächlich: Es geht um viel.
Erstens hat sich das EU-Parlament zu einem zentralen Schalthebel der Gesetzgebung entwickelt. Abgeordnete in Berlin beklagen, dass der Bundestag bei vielen politischen Themen nicht mehr selbst entscheidet, sondern nur umsetzt, was auf europäischer Ebene längst entschieden wurde. Zugleich hat sich das EU-Parlament auch gegenüber dem Ministerrat emanzipiert. Diplomaten bestätigen, dass die Abgeordneten den Ministern in den Schlussverhandlungen, dem Trilog, heute regelmäßig mehr Zugeständnisse abringen als früher.
Gewichte im EU-Parlament verschieben sich nach rechts
Zweitens ist absehbar, dass sich die Gewichte im EU-Parlament nach rechts verschieben werden. Rechtskonservative und rechtsextreme Parteien können den Umfragen zufolge mit spürbaren Stimmgewinnen rechnen, während Grüne und Liberale weniger Sitze erringen dürften als vor fünf Jahren. Das löst – vor allem – Sorgen um Toleranz, Offenheit und Demokratie aus. Und das schürt darüber hinaus am Wirtschaftsstandort Deutschland und am Finanzplatz Frankfurt die Sorge, dass eine Schwächung Europas die Wettbewerbsfähigkeit beeinträchtigt und eine Renationalisierung und Abschirmung, im schlimmsten Falle gekoppelt mit Ausgrenzung und Fremdenfeindlichkeit, Investoren abschreckt.
Drittens schließlich steht in Europa in den nächsten Wochen die Vermessung der politischen Mitte bevor. Wo genau rechts der Mitte verläuft die Grenze zu jenen politischen Kräften, mit denen die traditionellen Parteien eine Zusammenarbeit ausschließen? Die Antwort auf diese Frage hängt unter anderem von den Wahlergebnissen ab. Denn die Resultate des Urnengangs werden darüber entscheiden, wie einfach oder wie kompliziert es für Konservative, Sozialdemokraten, Liberale und Grüne künftig werden wird, sich zu verständigen, ohne dabei von der Zustimmung von polnischer PiS, ungarischer Fidesz oder italienischer Fratelli d’Italia abhängig zu sein. Ganz zu schweigen von AfD, französischem Rassemblement National oder der niederländischen Partij voor de Vrijheid.
Zwar steht aus heutiger Sicht nicht zu befürchten, dass eine vereinigte Rechtsaußen-Fraktion das Steuerruder im EU-Parlament an sich reißt. Denn dazu sind zum einen alle Rechtsausleger, selbst wenn man ihre Prognosen addiert, weit von einer Mehrheit entfernt. Zum anderen scheint es unrealistisch, dass sich die sehr unterschiedlichen Parteien rechts der Mitte und am rechten Rand zu einer politischen Familie verbünden. Aber: Die Rechts-der-Mitte-Parteien können immer effektiver Entscheidungen verhindern, zumal im EU-Parlament Fraktionsdisziplin nicht annähernd so stark ausgeprägt ist wie in nationalen Parlamenten. Immer öfter werden in Zukunft daher unter den traditionellen Parteien Vierer-Koalitionen notwendig sein, um nach Abzug aller Abweichler trotzdem noch eine Mehrheit zu gewährleisten.
Die konservative Spitzenkandidatin Ursula von der Leyen ist in die Kritik geraten, weil sie sich vorstellen kann, sich unter aktiver Mitwirkung von Melonis Brüdern Italiens zur EU-Kommissionschefin küren zu lassen. Von der Leyen riskiert, deswegen die potenzielle Unterstützung der Parteien links der Mitte zu verlieren. Gewiss: Selbst Sozialdemokraten räumen hinter vorgehaltener Hand ein, dass sich Meloni auf europäischer Bühne bisher EU-freundlicher als erwartet präsentiert hat, insbesondere bei den Themen Migration und Unterstützung der Ukraine. Das Risiko einer Zusammenarbeit der konservativen Parteien mit ihr, die an anderen Stellen weiterhin Tabus der politischen Mitte bricht, ist jedoch zu groß, als dass es von der Leyen eingehen sollte. Denn die Verschiebung der politischen Demarkationslinie nach rechts birgt letztlich die Gefahr, dass alle beschworenen Abgrenzungen, etwa gegenüber der AfD, an Glaubwürdigkeit verlieren.