Tokio

Ehrliche Bürger, korrupte Bürgervertreter

Politische Beobachter in Japan erlebten in den vergangenen Tagen ein Déjà-vu: Mit Innenminister Minoru Terada musste wieder einmal ein Regierungsmitglied seinen Posten wegen dubioser Finanzierungsmethoden räumen.

Ehrliche Bürger, korrupte Bürgervertreter

Politische Beobachter in Japan erlebten in den vergangenen Tagen ein Déjà-vu: Mit Innenminister Minoru Terada musste wieder einmal ein Regierungsmitglied seinen Posten wegen dubioser Finanzierungsmethoden räumen. Spendenpapiere einer Unterstützergruppe von Terada trugen die Unterschrift eines Mannes, der zu diesem Zeitpunkt bereits tot war. Der Minister hatte auch behauptet, er habe Benzinkosten selbst bezahlt, für die in Wirklichkeit schon ein anderer Förderkreis von ihm aufgekommen war. In Sachen Geld existiert in Japan ein seltsam großer Kontrast zwischen Volksvertretern und Wählern. Der langjährige Japan-Beobachter Robert Whiting brachte diesen Unterschied auf die Formel „Ehrliche Bürger, korrupte Führer“. Seine Beschreibung lässt sich nicht von der Hand weisen.

Die braven Bürger von Japan lieferten im Vor-Pandemie-Jahr 2019 insgesamt 4,2 Millionen gefundene Gegenstände bei den Polizeistationen ab. Darunter waren 560000 Sachen von finanziellem Wert wie Geldkarten und Geschenkgutscheine sowie 372000 Brieftaschen. Das abgelieferte Bargeld summierte sich auf umgerechnet knapp 27 Mill. Euro, was fast der Hälfte des verloren gemeldeten Bargelds von fast 58 Mill. Euro entsprach. Wer länger in Japan lebt, ist von dieser Ehrlichkeit wenig überrascht. In jeder japanischen Großstadt kann man in ein Café gehen, zur Platzreservierung sein Smartphone auf einen Tisch legen und dann erst einmal in Ruhe die Toilette aufsuchen, ohne dass man den Verlust seines teuren Gerätes fürchten muss. Solche Diebstähle sind selten, ebenso Taschendiebe, Handtaschenräuber und Einbrecher. Im internationalen Vergleich hält sich die Kriminalität wirklich in Grenzen.

Währenddessen ist der „institutionelle Diebstahl“ an der Tagesordnung. Politische und wirtschaftliche Skandale sind in Japan verbreitet. Die Japaner selbst benutzen den Begriff „strukturelle Korruption“, um ihr eigenes System zu beschreiben. Gemeint ist, dass ein Parlamentsabgeordneter ein Vielfaches seines Gehalts für seine potenziellen Wähler ausgibt – etwa über gefüllte Geldumschläge bei Hochzeiten, Beerdigungen und Festen sowie zur Unterstützung von Kandidaten seiner Partei in Lokal- und Regionalwahlen. Diese Umstände erklären, warum viele Sitze im Parlament von einer Generation einer Politikerdynastie zur nächsten quasi vererbt werden. Die Wähler kennen diesen Namen schon. Um genauso bekannt zu werden, müsste ein Neuling enorm viel Geld in Werbung investieren.

Dennoch erstaunt die kriminelle Energie mancher Volksvertreter und Kabinettsmitglieder. Der Lockheed-Konzern schmierte höchste Kreise einst mit vielen Millionen Dollar, um seine Flugzeuge an die Streitkräfte und Fluggesellschaften in Japan zu verkaufen. Zwischen manchen Gangsterboss einer Yakuza-Bande und hochrangige Parteipolitiker passte kein Blatt Papier, so nah waren sie sich. Während der Spekulationsblase der 1980er Jahre liehen sich sogenannte Finanzgangster von Geldinstituten hohe Yen-Beträge, die sie dank politischer Protektion nie zurückzahlen mussten. Damals bezeichneten böse Zungen Japan als das korrupteste Land der Welt, weil die Dauerregierungspartei LDP den halben Staatshaushalt für den Bau von unnötigen Straßen, Brücken, Dämmen und Tunneln einsetzte. Die lokalen Bauunternehmer gaben den Bewohnern im vernachlässigten ländlichen Raum dadurch Arbeit und forderten im Gegenzug von ihnen, bei der nächsten Wahl für die LDP zu stimmen.

Die Menschen in Japan beobachten dieses Korruptionsdickicht seit Jahrzehnten, ohne den Politikern den Stecker zu ziehen. Eine Demonstration gegen Bestechlichkeit habe ich hier noch nie gesehen. Eine Erklärung für die Bürgergeduld verweist auf die Traditionen eines repressiven Feudalismus. Japan habe eben nie eine Epoche der Aufklärung wie in Europa erlebt, so dass die Subjekte des Staates willenlos gefügig seien. Andere Beobachter machen die Lehren des Philosophen Konfuzius verantwortlich, die einen bedingungslosen Gehorsam gegenüber jedem Höherstehenden und dem Staat verlangen. In der Folge würden Japaner Autoritäten eben nur selten in Frage stellen.

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