Ein Hauch von Anarchie
Soeben hat die Regierung den Corona-Notstand für insgesamt 60% der japanischen Bevölkerung bis zum 12. September verlängert. Die Botschaft dahinter: Die Menschen sollen möglichst viel zu Hause bleiben, sei es im Homeoffice zu arbeiten, sei es aufs Ausgehen zu verzichten. Damit ihnen das leichter fällt, müssen alle Bars und Restaurants um 20 Uhr schließen, alkoholische Getränke sind verboten.
Doch durch Nippon weht ein Hauch von Anarchie: Trotz drohender Geldstrafen bleiben viele Gaststätten bis spätabends geöffnet und schenken Alkohol aus. Gleichzeitig zeigen Bewegungsdaten, dass die Japaner trotz Notstandes keineswegs mehr zu Hause bleiben. Vielmehr sind S-Bahnen, Straßen, Einkaufszentren und Strände brechend voll.
Eine staatliche Gegenoffensive blieb stecken: Als der für Covid-19 zuständige Minister Yasutoshi Nishimura die Banken aufforderte, finanziellen Druck auf diejenigen Bars und Restaurants unter ihren Kreditnehmern auszuüben, die Alkohol ausschenken, entfachte er einen Sturm der Entrüstung und trat bald den Rückzug an. Sein zweiter Versuch war ebenfalls ein Rohrkrepierer. Diesmal verlangte die Steuerbehörde von den Großhändlern für Bier und Spirituosen, ihre Geschäfte mit Alkohol ausschenkenden Gaststätten zu beenden. Doch der Händlerverband lehnte das Ansinnen ab und erklärte, die regierende Liberaldemokratische Partei bei der Parlamentswahl im Herbst nicht mehr zu unterstützen. Premierminister Yoshihide Suga konnte einen Rücktritt von Nishimura nur mit Mühe abwenden.
Als Korrespondent erlebe ich damit zum ersten Mal, dass die Japaner in einer Krise ihre Regierung so deutlich missachten. Bisher drückten sie ihren Unwillen eher diskret aus und hielten sich mit Kritik zurück. Dadurch blieb der Anschein von braven und gesetzestreuen Bürgern bestehen. Doch nun kommt es zu meiner Überraschung vor, dass mir Japaner schon beim ersten Kennenlernen freimütig erzählen, für wie unfähig sie Beamte und Politiker halten – die Distanz zwischen ihren Forderungen und ihrem Benehmen sei einfach zu groß. Das Paradebeispiel war die Olympia-Austragung: Die Japaner sollten zu Hause bleiben, während Zehntausende Ausländer einreisten. Ein anderes Beispiel für die Ignoranz des Staatsapparates kenne ich aus meiner beruflichen Praxis: Zu Pressekonferenzen des Premierministers muss ich persönlich gehen, eine virusfreie Teilnahme per Videoschalte wird nicht angeboten.
Ich möchte nicht ausschließen, dass die aktuelle Kombination von Infektionsrekorden und der sprunghaften Zunahme schwerer Krankheitsfälle mit Todesfolge den zivilen Ungehorsam von Bürgern und Gastronomen verringert oder beendet. Ein solcher Trendwechsel ist jedoch keineswegs sicher. Denn Regierungschef Suga und seine Minister stecken trotz der dramatischen Entwicklung der Pandemie wie zuvor ihre Köpfe in den Sand und vertrauen ganz allein auf eine schnelle Erhöhung der Impfquote. Auf diese Weise hoffen sie die bisher stärkste Infektionswelle zu stoppen, bevor das strukturell schwache Gesundheitswesen zusammenbricht. Vermutlich halten große Teile der Bevölkerung diese „Strategie“ des Nichthandelns schon länger einfach nur noch für zynisch und nehmen die Virusgefahren daher ebenso auf die leichte Schulter wie die eigene Regierung. Den Umfragen zufolge fällt die Unterstützungsrate der Wähler für Suga jedenfalls im Wochentakt auf neue Tiefs.
Die liberale Zeitung „Mainichi“ identifizierte einen „grundlosen Optimismus“ des Staates als Ursache für die unkontrollierte Virusausbreitung. Im festen Glauben an das „japanische Modell“ (Ex-Premier Shinzo Abe), dass sich Covid-19 allein durch die Selbstbeherrschung der Japaner und ohne ernsthaften Lockdown stoppen lasse, begannen die Behörden nach Ansicht der Zeitung zu spät mit dem Impfen und vernachlässigten vorbeugende Maßnahmen. Darin spiegelt sich nach meiner Beobachtung auch die Überzeugung von Beamten und Politikern wider, dass Japan und Japaner anders seien als der Rest der Welt und daher nach eigenen Regeln spielen können. Den Preis für diese nationale Arroganz zahlt wieder einmal der einfache Bürger.