Madrid

Ein Herz für camareros und deren kleine Träume

Seit Jahren gibt man in Spanien in Bars und Restaurants immer weniger Trinkgeld. Nun wirbt ausgerechnet die Regionalregierung in einem Spot dafür, wieder mehr „propina“ als steuerfreies Zubrot für die Bedienung zu hinterlassen. Im Netz werden dagegen bessere Grundgehälter für das Personal gefordert.

Ein Herz für camareros und deren kleine Träume

Die Weihnachtszeit ist neben dem frenetischen Kaufrausch auch die Zeit für Spendenaufrufe für alle möglichen guten Zwecke. In Madrid hat diese Tage eine recht ungewöhnliche Kampagne für Aufmerksamkeit und reichlich Kontroverse gesorgt. In einem einminütigem Video wird dazu aufgerufen, wieder mehr Trinkgeld in Bars und Restaurants zu hinterlassen. Der Trend ist nämlich seit Jahren rückläufig. Die „propina“ für die nette Bedienung sei für die Mitarbeiter der Gastronomie entscheidend, um sich ihre „kleinen Träume“ erfüllen zu können, so die frohe Botschaft.

„Das sind die Klavierstunden für Elenas Sohn“, heißt es zum Auftakt des Filmchens, zum strahlenden Lächeln einer Frau beim Bewundern der musikalischen Begabung ihres Sprosses. „Es ist das Geburtstagsgeschenk, mit dem Roberto ein Jahr mehr Concha überraschen kann“, lautet das nächste Beispiel mit den entsprechenden Eindrücken eines jungen Paares. Und schließlich sind da noch die Englischstunden von Sofia, alles „kleine Träume“, die sich nach Auffassung der Macher der Kampagne allein vom Trinkgeld finanzieren lassen.

Der Auftraggeber ist nicht etwa der Gaststättenverband, sondern das Wirtschafts- und Finanzministerium der Landesregierung der Region Madrid. „Für uns ist es eine kleine Geste, aber für diese Leute ist es das Extra, das ihnen diese so notwendigen Illusionen ermöglicht“, ist das Fazit des Videos, bevor ein restlos glücklicher Kellner die Glocke in der Wirtschaft läutet, vielleicht wegen Weihnachten oder im Rahmen einer alten Tradition, mit der das Gastropersonal den Eingang von Münzen oder Scheinen im Trinkgeldtopf feiert.

Das Video wurde schon 1,4 Millionen Mal aufgerufen. Die Kampagne #Yodejopropina (#IchGebeTrinkgeld) wurde in den sozialen Netzwerken reichlich kommentiert, wobei die negativen Reaktionen zu überwiegen scheinen. Mehrere User fordern eine Aufbesserung der gewöhnlich schmalen Gehälter der Kellner und Kellnerinnen, damit die kleinen Träume gar nicht erst von der Großzügigkeit ihrer Gäste abhängig sind. Die konservative Volkspartei (PP), zu der auch die Ministerpräsidentin von Madrid, Isabel Díaz Ayuso, gehört, ist allerdings kein Freund einer Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns, wie ihn Spaniens Linksregierung von Pedro Sánchez verfolgt.

Ungewöhnlich ist auch, dass eine Regionalregierung, die eigene Steuern erhebt, mit einer Werbekampagne der Schwarzwirtschaft zuspricht. Man muss sich fragen, ob der Klavierlehrer von Elenas Sohn und Sofias Englischprof auf Rechnung arbeiten oder ihre Dienste steuerfrei anbieten. Die Kampagne basiert jedoch auf einem realen Trend. In Spanien gibt es sehr viele hauptberufliche und bestens befähigte camareros und camareras. Wer schon einmal in einer Madrider Bar den Kellner dabei bewundert hat, wie er zeitgleich mit einer Hand einen café con leche zubereitet und mit der anderen ein Bier zapft, weiß die Professionalität des Gastropersonals zu schätzen.

Doch seit Jahren werden die Trinkgelder geringer. Bei größeren Rechnungen im Restaurant ist es üblich, eine propina irgendwo zwischen 5 und 10% zu hinterlassen. In der Bar kann man dagegen problemlos von 8,70 auf 9 Euro aufrunden, ohne dabei von der Bedienung schief angeguckt zu werden. Auch ganz ohne Trinkgeld das Lokal zu verlassen ist mittlerweile ohne Groll möglich. Der flächendeckende Gebrauch von Kreditkarten und Zahlungsapps, der in Spanien viel weiter verbreitet ist als etwa in Deutschland, hat sich ebenfalls negativ auf den Tip ausgewirkt.

Die Landeschefin Díaz Ayuso verfolgt mit der Kampagne für mehr Trinkgeld womöglich aber auch ganz eigennützige politische Interessen. Im Mai 2021 gewann die Konservative die vorgezogenen Parlamentswahlen, auch dank großer Unterstützung aus der Gastronomie. Díaz Ayuso hatte trotz Pandemie und vielen Corona-Toten in der Hauptstadt die Bars und Restaurants offen gehalten. Das genauso plumpe wie verfängliche Motto der Kampagne „Libertad“ („Freiheit“) zog bei vielen jungen Leuten und Erstwählern. Im kommenden Mai wird in Madrid wieder gewählt. Díaz Ayuso hat schon mal den Kneipenwahlkampf eingeläutet.