Ein Himmel voller Geigen
Der Ausdruck „historisch“ sollte vorsichtig verwendet werden. Aber das erste Quartal des Siemens-Geschäftsjahres geht tatsächlich in die Geschichtsbücher des Konzerns ein. Die Kunden reißen dem Elektronik- und Bahnspezialisten die Produkte und Dienstleistungen aus der Hand. Der Auftragseingang stieg um mehr als die Hälfte. Dies entspricht 8 Mrd. Euro mehr Order. Eine weitere Zahl illustriert, welches Potenzial dieser Ansturm eröffnet: Das Verhältnis von Auftragseingang zu Umsatz stieg auf 1,47. Siemens baut ein großes Orderbuch auch im profitablen kurzzyklischen Geschäft auf.
Die Schlussverkauf-Stimmung ist nicht einem Sondereffekt in einer Region wie etwa Asien geschuldet, sondern ein weltweites Phänomen. Beispielsweise steigerte die Sparte Digital Industries ihren Automatisierungs-Auftragseingang in China um 78%. Deutschland kommt mit 62% nahe an diesen Wert heran, und Italien liegt mit 155% sogar darüber.
Volkswirtschaftlich gesehen sind derlei Ausschläge bedenklich. Sie zeigen, dass die globalen Wirtschaftskreisläufe aus dem Ruder laufen. Die Corona-Pandemie, die Geldpolitik der Notenbanken und die staatlichen Investitionsprogramme bringen Angebot und Nachfrage in ein Ungleichgewicht. Dies produziert Gewinner und Verlierer. Insofern sind die hohen Wachstumsraten auch aus betriebswirtschaftlicher Sicht mit Vorsicht zu bewerten. Denn natürlich gibt es im Siemens-Auftragsbuch vorgezogene Bestellungen, wenngleich kein Mensch weiß, wie umfangreich sie sind. Derlei „Aufträge auf Vorrat“ sind rational. Erstens müssen die Abnehmer mit verlängerten Lieferzeiten rechnen. Zweitens erwarten sie Preiserhöhungen.
Ein Auftragsvolumen auf dem aktuellen Niveau wird also nicht von Dauer sein.Trotzdem zeichnet sich ab, dass Siemens nach den Verwerfungen auf der Seite der Sieger steht. Als Einkäufer kann der Konzern aufgrund seiner Größe die negativen Effekte minimieren. Seine Lieferketten sind relativ intakt, zur Not wird die Herstellung einzelner Produkte zwischen den Fabriken verschoben. Im Verkauf seiner Waren profitiert der Konzern davon, dass er den Bedarf trifft, indem er Softwarekompetenz in die Hardware bringt. Die hohe Nachfrage nach diesem Know-how ermöglicht, die steigenden Materialkosten schnell in Form erhöhter Verkaufspreise weiterzugeben.
Die Orders sind ein Asset, mit dem Siemens in den kommenden Quartalen wuchern kann. Der Umsatz wird kontinuierlich mit ansehnlichem Tempo zulegen, wenngleich die Umstellung des Software-Geschäfts auf ein Abomodell vorerst Bremsspuren hinterlässt.
Das Wachstum ist aus zweierlei Gründen relevant. Erstens nimmt Siemens der Konkurrenz im Kerngeschäft Digital Industries zunehmend Marktanteile ab. Der Konzern kann seine Größenvorteile gegenüber den kleineren Wettbewerbern ausspielen. Im vergangenen Geschäftsjahr hat die Siemens-Sparte die Konkurrenten Schneider, Dassault Systèmes, Rockwell sowie ABB in den relevanten Geschäftsfeldern deutlich übertroffen. Auch die Wachstumspläne der Münchner sind teils ambitionierter als jene der Konkurrenten. Das erste Quartal unterstreicht, dass dieses Vorhaben realistisch ist. Der zweite Grund für die Relevanz der Erlösdynamik: Siemens versucht, sich bei den Investoren als Wachstumswert zu platzieren und so den Bewertungsabschlag abzuschütteln. Damit dies gelingt, muss möglichst kontinuierlich steigende Umsätze präsentiert werden.
Wer zu viel Schwung hat, der droht aus der Kurve zu fliegen. Analysten hatten nach dem vierten Quartal des vergangenen Geschäftsjahres zu Recht bemängelt, dass der Konzern die Margenerwartungen nicht erreichen konnte. Das erste Quartal bietet ein völlig anderes Bild. Die Ergebnismarge im industriellen Geschäft ist mit 15,7% angesichts der Pandemie-Umstände sehr gut. Die Erwartungen der Analysten wurden deutlich übertroffen.
Besonders erfreulich: Nach dem Umbau der vergangenen Jahre gibt es keine ausgeprägten Schwachpunkte. Neben Digital Industries registriert auch Smart Infrastructure einen Auftragsschub, wenngleich die Sparte noch unter der Schwäche des spätzyklischen Immobilienmarktes leidet und unverändert wenig profiliert ist. Die Bahnsparte Mobility wächst deutlich schneller als der Konkurrent Alstom. Die Rentabilität vergangener Jahre kann sich im Konkurrenzvergleich sehen lassen. Wichtig ebenfalls: Sonderbelastungen gibt es nicht, stattdessen realisiert Siemens hohe Gewinne aus dem Verkauf von Randaktivitäten.
Der Himmel hängt voller Geigen für Siemens. Trotzdem gibt es einen hohen Bewertungsabschlag gegenüber Wettbewerbern wie Schneider. Siemens muss sich weiter verbessern,um diese Lücke zu schließen.