LeitartikelEU-Spitzenpersonalien

Eine Abstimmung mit Sprengkraft

Ursula von der Leyen hat gute Aussichten, die nötigen Stimmen im EU-Parlament für eine zweite Amtszeit zu erhalten. Sollte sie scheitern, wären schwere Verwerfungen programmiert.

Eine Abstimmung mit Sprengkraft

Ursula von der Leyen

Eine Abstimmung mit Sprengkraft

Von Detlef Fechtner

Die Wetten lauten auf Sieg. Die Aussichten für Ursula von der Leyen, am Donnerstag für weitere fünf Jahre zur Präsidentin der EU-Kommission gewählt zu werden, stehen ziemlich gut. Zumindest, wenn man den Prognosen der Profi-Europäer in der EU-Kommission und im Europäischen Parlament Glauben schenkt.

Ziemlich gut bedeutet allerdings nicht, dass die Sache sicher ist. Und genau deswegen herrscht allerorten derzeit Nervosität. In der Europäischen Volkspartei, also der politischen Heimat von der Leyens. Aber auch bei allen anderen Parteien der politischen Mitte, bei Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen. Denn käme es am Donnerstag zur Überraschung und von der Leyen würde die Mehrheit verpassen, würde die EU jäh in schwere Verwerfungen und vielleicht sogar in eine tiefe Identitätskrise gestürzt.

Schließlich hat von der Leyen nur einen Versuch. Würden ihr weniger als die Hälfte der Europaabgeordneten, also weniger als 361 Delegierte, ihre Stimme geben, dann müsste der Rat zügig einen anderen Kandidaten für das Amt vorschlagen. Das freilich wäre ungefähr so kompliziert wie auf die Schnelle einen Ersatz für Joe Biden als demokratischen US-Präsidentschaftskandidaten zu finden.

Denn Europas Spitzenpersonalien folgen einer sensiblen politischen Mathematik. Die Besetzung der Posten von Kommissionschefin, Ratspräsident und Hoher Beauftragten muss die politischen Machtverhältnisse und eine regionale Ausgeglichenheit spiegeln, ebenso wie eine Balance zwischen weiblichen und männlichen Besetzungen sowie zwischen großen und kleinen Mitgliedstaaten. Erschwerend kommt hinzu, dass dabei der „cordon sanitaire“, also quasi die Brandmauer, zu jenen politischen Kräften aufrechterhalten bleiben soll, die Anlass zum Zweifel an ihrer Haltung pro Europa, pro Rechtsstaat und pro Ukraine bieten. Übersetzt in die Arithmetik des neuen EU-Parlaments bedeutet das: Als Kandidat für das Amt, das aktuell von der Leyen innehat, taugt nur ein Kandidat oder eine Kandidatin, die den überwiegenden Teil der Stimmen sowohl von Christdemokraten und Sozialdemokraten als auch von Liberalen und Grünen auf sich vereinigen kann. Und das wird gegenwärtig nur einer Kandidatin zugetraut, nämlich von der Leyen.

Denn sie hat zwar in ihrer Amtszeit und zuletzt seit ihrer Nominierung einige Kritik auf sich gezogen, etwa wegen Ungereimtheiten bei der Beschaffung von Impfstoffen oder bei der Nominierung eines Mittelstandsbeauftragten - oder auch durch ihre Weigerung, sich klarer von Parteien rechts der Mitte wie Italiens Regierungspartei Fratelli d´Italia abzugrenzen. Aber sie hat in den zurückliegenden fünf Jahren als Managerin von Krisen und Maklerin der nationalen Interessen zugleich breite Anerkennung erworben, etwa in Zusammenhang mit dem Programm Next-Generation und dem Green Deal.

Insofern gilt sie grundsätzlich für alle Parteien der politischen Mitte als wählbar – und man benötigt eine Menge Fantasie, um sich vorzustellen, welche oder welcher andere Konservative (denn nach dem klaren Wahlerfolg wird die mit Abstand größte Parteienfamilie in Rat und Parlament auf eine Besetzung aus ihren Reihen bestehen) auf Unterstützung der vier traditionellen Fraktionen rechnen könnte.

Natürlich wäre eine Nicht-Wahl von der Leyens nicht der Untergang der Europäischen Union. Aber ein Scheitern der Amtsinhaberin in der geheimen Wahl birgt genug Sprengkraft, um Argwohn zwischen jenen Parteien zu schüren, die in der nun begonnenen Legislaturperiode eigentlich sehr eng und vertrauensvoll miteinander kooperieren müssen, um einen politischen Stillstand Europas zu verhindern. Zumal die Bremser jedweder europäischen Lösung am rechten Rand an Einfluss gewonnen haben.

Paradoxerweise dürfte gerade die Sorge vor einer politischen Explosion am Donnerstag die Wahrscheinlichkeit reduzieren, dass es dazu kommt. Denn da sich niemand in der politischen Mitte die Turbulenzen wünscht, die eine Nicht-Wahl von der Leyens mit sich bringen würde, dürfte die Amtsinhaberin auch auf Stimmen von denen hoffen, die allenfalls halbherzig von ihr überzeugt sind.

Paradoxerweise dürfte gerade die Sorge vor einer politischen Explosion die Wahrscheinlichkeit reduzieren, dass es dazu kommt.

BZ+
Jetzt weiterlesen mit BZ+
4 Wochen für nur 1 € testen
Zugang zu allen Premium-Artikeln
Flexible Laufzeit, monatlich kündbar.