Ende des Sozialklimbims
Londoner Touristen sind oft überrascht, dass im öffentlichen Nahverkehr beliebter Reiseziele wie Barcelona oder Lissabon Kinder schon ab vier Jahren zur Kasse gebeten werden. Denn in der britischen Metropole fahren Kinder bis zum 11. Geburtstag umsonst. Ab fünf Jahren benötigen sie dafür einen speziellen Kinderfahrausweis mit Foto. Mit einer solchen Zip Oyster Photocard können sie noch bis zum 16. Lebensjahr Busse und Straßenbahnen kostenlos benutzen. Im Geburtsland des Manchester-Kapitalismus würde man so etwas eigentlich nicht erwarten, aber in Großbritannien stößt man immer wieder auf Überbleibsel einer Zeit, in der man noch alle Menschen am Wohlstand teilhaben lassen wollte.
Doch auch Transport for London wird sich derlei Sozialklimbim wohl bald nicht mehr leisten. Die britische Regierung hat den jüngsten Bail-out des Nahverkehrsbetreibers mit der Forderung verbunden, die Kosten um 900 Mill. Pfund jährlich zu senken. Angesichts der Tatsache, dass sich die Finanzhilfen für TfL damit auf 5 Mrd. Pfund summieren, ist es kein Wunder, dass die regierenden Konservativen nun mitreden wollen. Man sollte allerdings nicht vergessen, dass den privaten Bahngesellschaften Covid-Hilfen in höherem Maße gewährt wurden, ohne sie mit vergleichbaren Auflagen zu verbinden.
Das Geschäftsmodell von TfL liegt in Trümmern. Denn anders als vergleichbare Nahverkehrsunternehmen in Paris oder New York, wo lediglich gut ein Drittel der Kosten durch Beförderungsentgelte bestritten werden muss, liegt dieser Anteil in London doppelt so hoch. Während der Pandemie brach das Passagieraufkommen zusammen, nicht nur während der Lockdowns. Auch nach Aufhebung der Ausgangsbeschränkungen blieben viele Hauptstadtbewohner lieber zu Hause, zumal viele bequem aus dem Homeoffice arbeiten konnten. Dass der Staat tiefer in die Tasche greift, um TfL eine solidere finanzielle Grundlage zu verschaffen, steht derzeit nicht zur Debatte. Premierminister Boris Johnson dürfte sich noch gut an die Gewerkschaftler erinnern, mit denen er sich während seiner Zeit als Londoner Bürgermeister auseinandersetzen musste. Sein Vorhaben, fahrerlose U-Bahn-Züge einzusetzen, kam nicht gut an. Nun liegt es wieder auf dem Tisch. Kein Wunder, denn wie die „Sunday Times“ vor einiger Zeit ermittelte, erhalten U-Bahn-Fahrer im Schnitt 55 000 Pfund pro Jahr. Manche kommen auf mehr als 100 000 Pfund. Zudem halten viele Tories den TfL-Verwaltungsapparat für aufgebläht. Johnsons Nachfolger als Bürgermeister der britischen Metropole, Sadiq Khan (Labour), hat zwar zugesagt, die Machbarkeit des Einsatzes von fahrerlosen Zügen auf zwei Linien der „Tube“ zu prüfen. Er sprach sich jedoch gegen ihre Einführung aus. Überraschen dürfte dies niemanden. Die TfL-Belegschaft wird zu seiner Stammwählerschaft gerechnet. Khan hatte von der Regierung 16 Mrd. Pfund für sein Programm des Weiter-so gefordert, biss damit jedoch bei Verkehrsminister Grant Shapps auf Granit. Shapps verlangte ihm zudem ab, erst einmal die Auswirkungen der Pandemie und des Arbeitens von zu Hause auf den künftigen Bedarf zu ermitteln, bevor prestigeträchtige Erweiterungsvorhaben des Transportnetzes angegangen werden. Für die von der Regierung vorangetriebene Hochgeschwindigkeitsbahnstrecke High Speed 2 (HS2), die London mit Birmingham und Manchester verbinden soll, hatte er das nicht für nötig gehalten. Offenbar gelten für die Hauptstadt, in der für die Tories kein Blumentopf zu gewinnen ist, andere Maßstäbe.
Die Einstellung bestimmter U-Bahn-Linien oder Busverbindungen dürfte angesichts der hohen Fixkosten von TfL und der großen Abhängigkeit von Fahrpreiseinnahmen nicht die gewünschten Einsparungen bringen. Man kann sich deshalb schon denken, wer die Kosten für den Erhalt von Khans Erbhof tragen wird. Schon als er das erste Mal zum Stadtoberhaupt gewählt wurde, konnte er sein Wahlversprechen, die Ticketpreise einzufrieren, nicht ganz einhalten. Zeitkartenbesitzer mussten tiefer in die Tasche greifen. Es wird also teurer werden, die Dienste von TfL in Anspruch zu nehmen. Mal sehen, was aus den Vergünstigungen für Kinder wird. Im Gegensatz zu den hoch bezahlten U-Bahn-Fahrern haben sie bei Wahlen keine Stimme.
(Börsen-Zeitung,