Furcht vor IPO-Flucht europäischer Tech-Unternehmen in die USA
Europas Furcht vor dem IPO-Exodus in die USA
Der schwedische Zahlungsdienstleister Klarna will im April in New York an die Börse gehen. Folgen europäische Tech-Unternehmen dem Beispiel des IPO-Auswanderers, dann dünnen die Kurszettel diesseits des Atlantiks aus. Doch eine totale Abkehr von Europa zeichnet sich nicht ab.
Von Christoph Ruhkamp, Frankfurt
An Europas Finanzplätzen tut sich etwas Besorgniserregendes: Es gibt mehr Delistings als Börsengänge. Für das Verschwinden der Firmen sind meist Übernahmen durch Wettbewerber oder Finanzinvestoren verantwortlich. Allein im Jahr 2024 haben sich in Deutschland 22 Unternehmen von der Börse verabschiedet. Immerhin sieben dieser Firmen waren im stärker regulierten Prime Standard notiert. Die drei größten Beispiele neben dem Taking Private des Windparkbetreibers Encavis durch KKR waren Telefónica Deutschland (Marktkapitalisierung: 7,2 Mrd. Euro), die dem Mutterkonzern Telefónica einverleibt wurde, sowie die Laborkette Synlab der Private-Equity-Firma Cinven und die Südzucker-Tochter Cropenergies. Die nächsten Delistings sind schon in Vorbereitung: Der Finanzinvestor CVC greift sich Compugroup – ebenso wie sich TA Associates die Softwarefirma Nexus einverleibt und Carlyle die Softwarefirma SNP Schneider Neureither.
IPO-Flaute in Deutschland
Der Exodus von der Börse steht im krassen Gegensatz zur IPO-Flaute. Zum Vergleich: Neu an die Börse gekommen sind 2024 in Deutschland nur der Panzergetriebehersteller Renk sowie die Parfümeriekette Douglas und der Wissenschaftsverlag Springer Nature, die in Summe einen Emissionserlös von nur 2,3 Mrd. Euro einspielten. Im Vergleich zum Vorjahr verharrte der IPO-Markt damit auf demselben niedrigen Niveau. Im laufenden Jahr gab es noch keinen einzigen Börsengang in Deutschland – wenngleich der 10 Mrd. Euro schwere Generikakonzern Stada aus dem Portfolio von Bain und Cinven sowie die Oldenburgische Landesbank Hoffnungswerte für die Zeit um Ostern sind.
Europaweit sieht es bisher kaum besser aus: Nach Angaben von Bloomberg wurden bei europäischen Börsengängen in diesem Jahr bisher nur 2,5 Mrd. Dollar eingenommen. Noch im vergangenen Jahr war das IPO-Volumen um 30% auf etwa 20 Mrd. Dollar geklettert, angeführt von Unternehmen wie dem Hautpflegekonzern Galderma des Finanzinvestors EQT in Zürich und der Private-Equity-Firma CVC in Amsterdam.
In den USA dagegen sind nach Daten von Berenberg in diesem Jahr bis dato 64 Unternehmen neu an die Börse gekommen (die Hälfte davon mit einem Emissionserlös oberhalb von 50 Mill. Dollar) und haben dabei in Summe 10 Mrd. Dollar Emissionserlös eingespielt – wenngleich auch das nicht gerade berauschend viel ist im Vergleich zum Boomjahr 2021.
Sieben Auswanderer im Jahr 2024
Um so argwöhnischer beobachtet wird die mögliche Sogwirkung, die die US-Börsen auf einen Teil der europäischen IPO-Kandidaten ausüben könnten, wie hierzulande befürchtet wird. Im Jahr 2024 gab es laut Berenberg immerhin sieben Unternehmen, die mit ihrem IPO aus Europa in die USA abgewandert sind. Gemessen am Emissionserlös waren nach Angaben von Goldman Sachs die drei größten dieser Auswanderer der finnische Sportausrüstungshersteller Amer Sports sowie der auf Rohstoffproduzenten spezialisierte britische Finanzdienstleister Marex Group und der britische Spac (Special Purpose Acquisition Company) Tavia.

Der Verlust dieser leichtgewichtigen Unternehmen an die USA lässt sich leicht verkraften. Aber es gibt durchaus auch Kandidaten, um die es wirklich schade wäre: Dem wertvollsten deutschen Start-up Celonis zum Beispiel werden schon lange Börsenpläne für die USA nachgesagt, zumal das Unternehmen einen Doppelsitz in München und New York hat.
Über eine transatlantische IPO-Abwanderung muss beim schwedischen Zahlungsdienstleister Klarna nicht mehr spekuliert werden. Das Unternehmen aus Stockholm („buy now, pay later“) will bei seiner für April geplanten Erstnotiz in New York 1 Mrd. Dollar Emissionserlös einspielen, bei einer Marktkapitalisierung von rund 15 Mrd. Dollar.
Klarna könnte Schub geben
Das IPO des Zahlungsdienstleisters, der vom Wagniskapitalgeber Sequoia Capital finanziert wurde, dürfte den Börsengängen im Technologiebereich Auftrieb verleihen, die nach einem Rekordvolumen im Jahr 2021 eine relative Flaute erlebt haben. Andere US-Tech-Unternehmen wie Chime Financial, Coreweave, Databricks, Stripe und Zilch Technology erwägen ebenfalls IPOs in diesem Jahr.
Auch in Europa sind einige Börsengänge von (Fin-)Tech-Unternehmen im Gespräch. Dazu zählen insbesondere Raisin und Sumup in Deutschland, Bitpanda in Österreich, Revolut in Großbritannien und Etoro in Israel. Weitere Tech-Start-ups in Deutschland wie Personio und Celonis haben Unicorn-Status erreicht und wurden bereits mit IPO-Plänen in Verbindung gebracht. Verheißungsvoll sind auch die Neobroker wie TradeRepublic und N26 oder KI-Rüstungsfirmen wie Helsing.
Klarna passt mit dem Business-Modell zu den USA.
Bastian Schiedat, Berenberg
Vielleicht bleibt der schwedische Auswanderer Klarna mit seinem IPO aber auch allein: „Klarna passt mit dem Business-Modell zu den USA“, sagt Bastian Schiedat, Leiter Equity Syndicate Kontinentaleuropa bei der Privatbank Berenberg. „Global agierende Tech-Unternehmen wie Klarna beschäftigen sich bei einem IPO immer mit dieser Option. Aber eine Sogwirkung auf andere Firmen wird das definitiv nicht entfalten. Als Alternativen für Klarna gäbe es nur ein Listing in Amsterdam, London oder Frankfurt. Aber das wäre auch nicht natürlicher für ein Unternehmen mit schwedischen Wurzeln.“
Klarna-Bewertung schwankt stark
Die Schätzungen zur Bewertung von Klarna schwankten in den vergangenen Jahren stark. In einer Finanzierungsrunde im Jahr 2021 erreichte der Wert einen Höchststand von 45,6 Mrd. Dollar, um dann in einer Runde im darauffolgenden Jahr auf 6,7 Mrd. Dollar abzusinken. Im vergangenen Jahr bewerteten Analysten das Unternehmen auf der Grundlage der Schätzung des Anteilseigners Chrysalis Investments mit rund 14,6 Mrd. Dollar.
Birkenstock wählte ein US-Listing
Auch wenn es keine regelrechte Sogwirkung durch Klarna gibt, droht erneut die Abwanderung von Unternehmen an andere Börsenplätze. Europa hatte in dieser Hinsicht 2023 einen Aderlass zu verkraften. Zwölf von 15 „Auswanderern“ aus Europa gingen laut EY in die USA. So debütierte die Traditionsfirma Birkenstock mit einer Marktkapitalisierung von 8,6 Mrd. Dollar in New York. Zuvor war bereits der schwerste Dax-Konzern Linde mit seinem Listing nach Übersee umgezogen. Weitere Beispiele für Auswanderer beim Listing waren die Schweizer Schuhfirma On Running, die schwedische Hafermilchmarke Oatly und der britische Chipdesigner Arm. Der irische Baustoffhersteller CRH verlegte sein Hauptlisting auf Druck des aktivistischen Investors Cevian in die USA – unter anderem, weil dort eine höhere Bewertung erhofft wurde.
Nach Einschätzung von Julian Schulze De la Cruz, Co-Leiter der Praxisgruppe Kapitalmarktrecht der Kanzlei Noerr, sind generell „skalierbare Tech-Geschäftsmodelle, insbesondere wenn sie bereits profitabel sind, bei internationalen Investoren sehr gefragt“: „Der Vorteil eines Börsengangs in den USA kann hier – trotz der höheren Zulassung- und Folgekosten – darin liegen, eine deutlich höhere Bewertung zu erzielen.“ Die dafür angeführten Gründe seien vielfältig: die höhere Nachfrage durch institutionelle Investoren, die professionelleren Analysten- und Bankenstrukturen und höhere Reputation bzw. Strahlkraft der Notierung in den USA.
Geschäftsmodell sollte in den USA nutzbar sein
Für einen erfolgreichen Börsengang in den USA sollten die Geschäftsmodelle laut Schulze De la Cruz jedoch idealerweise auch in den USA nutzbar sein: „Inwieweit daher der angekündigte Börsengang von Klarna eine Sogwirkung entfalten kann, lässt sich daher nicht pauschal beantworten, sondern hängt vom Geschäftsmodell, Größe und der Zusammensetzung der Gesellschafter ab.“ Bei einem international einsetzbaren Geschäftsmodell und global weitgestreuten Aktionärskreis wie beim „Decacorn“ Celonis biete sich daher ein Börsengang in den USA an. Bei eher regulatorisch getriebenen, auf Europa ausgerichteten Geschäftsmodellen wie bei Raisin oder Bitpanda dürfte eher ein Börsengang in Europa (bzw. Deutschland) zu erwarten sein.
Seth Rubin, Global Head of Equity Capital Markets bei der US-Investmentbank Stifel, beobachtet „ein zunehmendes Interesse von gereiften europäischen Unternehmen aus allen Wachstumssektoren, ihre Aktionärsbasis zu verbreitern und sich den weltweit größten Kapitalpool zu erschließen“: „Den finden sie nämlich in der Regel hier in den USA“, sagt Rubin. Sowohl Unternehmen als auch die Finanzinvestoren als Eigentümer prüften verstärkt Kapitalerhöhungen über ADRs (American Depositary Receipts) oder auch die Ausgliederung bestimmter Geschäftsbereiche über einen Börsengang in den USA. "Aus unserer Sicht macht das US-IPO eines europäischen Unternehmens am meisten Sinn, wenn der Schritt wirklich strategisch ist und nicht nur auf potenzielle Bewertungsarbitrage abzielt, was allerdings oft der Grund dafür ist.“