Haussegen in Mailänder Börse hängt schief
Haussegen in Mailänder Börse hängt schief
Die Gewerkschaften der zur Euronext gehörenden Mailänder Börse klagen über schlechte Arbeitsbedingungen und den Abzug von Kompetenzen. Es wurde sogar gestreikt. Die Verantwortlichen weisen die Vorwürfe zurück. Nun mischt sich Italiens Politik ein.
Von Gerhard Bläske, Mailand
Der Streik Ende Juni an der Mailänder Börse, der erste in der Geschichte des italienischen Aktienmarktes, kam zur Unzeit. Denn die Borsa Italiana eilt zwar von Rekord zu Rekord und hängt die anderen europäischen Aktienmärkte ab. Doch die Bedeutung des Börsenplatzes nimmt ab. Nach Zahlen der Finanzmarktaufsicht Consob ist die Gesamtkapitalisierung wegen vieler Delistings in den vergangenen Jahren kaum gestiegen.
Klein im Vergleich mit Pariser Börse
Mailand ist mit einer Kapitalisierung von 754 Mrd. Euro (2023) im Vergleich zu Paris klein. Die Kapitalisierung im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt ist seit dem Jahr 2000 von 70% auf 38% gesunken. Die Vergleichszahl aus Frankreich ist 100%. Und der Sneakerhersteller Golden Goose hat kürzlich in letzter Minute auf den geplanten Börsengang verzichtet. Die Eni-Tochter Plenitude und die Lebensmittelkette Eataly haben Notierungen immer wieder aufgeschoben.
Immer weitere Unternehmen verlassen den Börsenplatz. Es sind vor allem verhältnismäßig große Unternehmen wie Tod’s, CNH Industrial, Campari oder die Holding Exor, die der Börse den Rücken kehren. Damit verliert die Borsa Italiana, an der abgesehen von den großen Finanzwerten vor allem Mittelständler notiert sind, weiter an Gewicht. Zwischen 2013 und 2023 haben 97 Unternehmen mit einer Kapitalisierung von über 100 Mrd. Euro die Börse verlassen.
In diesem Jahr sind bisher weitere 22 Delistings angekündigt oder bereits vollzogen. Nur im Kleinstwertesegment Euronext Growth gibt es viele IPOs: Aber da findet bei vielen Werten praktisch kein Handel statt. Die Gesamtkapitalisierung der 203 (2017: 95) Werte beläuft sich auf 8 Mrd. Euro.
Die Hoffnungen, die viele Unternehmen mit dem Börsengang verknüpften, haben sich nicht erfüllt. Und obwohl diverse Gesetze und Neuregelungen Notierungen vereinfachen, mehr Möglichkeiten etwa bei Mehrfachstimmrechten einräumen und die Kosten für Notierungen reduziert haben, wiegen etwa Veröffentlichungspflichten und anderes schwer.
Streiks ohne große Auswirkung
Die drei großen Gewerkschaften der Borsa, die zu der französisch dominierten Mehrländerbörse Euronext gehört, hatten die 800 Beschäftigten am 27. Juni zu einem zweistündigen Streik aufgerufen. Bis Mitte Juli laufen weitere Aktionen. Zwar sprechen die Gewerkschaften von einer hohen Beteiligung, „leeren Büros, ausgeschalteten Computern und Telefonaten, die ins Leere gingen“. Doch Auswirkungen auf den Handel hatte dies erwartungsgemäß nicht. In Finanzkreisen heißt es, es sei auch nie die Absicht gewesen, den Handel lahmzulegen. Die Gewerkschaften hätten ein Zeichen setzen wollen.
Industrieminister Adolfo Urso will das Thema politisch ausschlachten. Er bestellte (vorerst nur) die Arbeitnehmerorganisationen in sein Ministerium ein. Auch Wirtschafts- und Finanzminister Giancarlo Giorgetti zeigt sich alarmiert. Denn über die zur Borsa gehörende Handelsplattform MTS wird auch der Handel mit Staatsanleihen abgewickelt.
Gewerkschaften beklagen Aushöhlung
Die Gewerkschaften beklagen „ständige, systematische und umfassende Desinvestitionen in Italien und die Entleerung der italienischen Strukturen von innen heraus“ sowie Jobverlagerungen. Mailand verliere seine Autonomie. Zentrale Positionen würden abgezogen. Außerdem kritisieren sie einen „systematischen und strukturellen Rückgriff auf Überstunden, den Verzicht auf die im erneuerten Tarifvertrag vorgesehenen Lohnerhöhungen“ und fordern eine bessere Governance. Lando Maria Sileoni, Generalsekretär der größten Gewerkschaft Fabi, betont, er wolle die Interessen der Mitarbeiter schützen. Es gehe nicht um politische Fragen.
Euronext bekundet Bereitschaft zum „konstruktiven Dialog“
Euronext weist die Vorwürfe zurück, räumt aber ein, dass die neue Organisation verstärkt Überstunden und Wochenendarbeit verlange. Man sei bereit zu einem „konstruktiven Dialog“. Seit der Integration seien 100 neue Jobs geschaffen worden. Das „Clearing House italiana“ Euronext Clearing (früher Cassa di Compensazione e Garanzia) sei nun auch für die anderen Börsenplätze von Euronext und Finanz- und Rohstoffderivate verantwortlich. Außerdem sei das Data Center für die ganze Gruppe im italienischen Bergamo eingerichtet worden. Es gebe eine Wachstumsstrategie für Mailand. Man wolle die italienische Präsenz in der Euronext-Gruppe ausbauen.
Aderlass an Führungskräften
Mit der Intesa Sanpaolo, die 1,5% der Anteile hält, und der Staatsbank Cassa Depositi e Prestiti (CDP) mit 7,8% hat Euronext, zu der auch die Börsenplätze in Paris, Oslo, Dublin, Brüssel, Lissabon und Amsterdam gehören, auch italienische Aktionäre. Chairman ist der Italiener Paolo Novelli, ein Ex-UBS-Banker. Italien hat Mitspracherechte. Fakt ist jedoch, dass die Borsa Italiana seit dem Verkauf durch die Londoner LSE an Euronext 2021 einen massiven Aderlass bei Managern aus der ersten und zweiten Reihe zu beklagen hat. CEO Fabrizio Testa hat im Vergleich zum langjährigen Vorgänger Raffaele Jerusalmi, der 2021 vorzeitig ging, keine klaren Kompetenzen. Jerusalmi saß im Verwaltungsrat der damaligen Mutter LSE. Die Mailänder Börse hatte damals wesentlich mehr Freiraum. Schmerzlich für die Aktionäre ist die Entwicklung des Euronext-Aktienkurses, der deutlich schlechter performt als derjenige der Deutschen Börse.
Minister fühlt sich bestätigt
Minister Urso von der rechtsnationalen Meloni-Partei Fratelli d’Italia war von Anfang an Gegner eines Verkaufs an Euronext. Die Mehrländerbörse hatte 4,4 Mrd. Euro gezahlt. Urso, damals Senator der Opposition, plädierte dafür, auch Angebote der Deutschen Börse und der Schweizer Six zu prüfen. Darauf verzichtete Premierminister Giuseppe Conte, obwohl sowohl die Deutschen als auch die Schweizer einen höheren Preis und Garantien für die Autonomie der Borsa Italiana boten.
Urso war der Meinung, dass der französische Einfluss in Italiens Finanzindustrie zu groß ist. Er forderte mehr operative Funktionen für Mailand sowie konkrete Investitionszusagen. Nun fühlt sich der Minister bestätigt. Premierministerin Giorgia Meloni soll den Fall genau beobachten.