Im TGV auf den Spuren der Deutschen Bahn
Vor wenigen Minuten ist der TGV 9870 am Brüsseler Südbahnhof losgerollt, da erhalten die Fahrgäste eine wichtige Mitteilung auf ihre Smartphones: Das Bordbistro bleibe an diesem Morgen ausnahmsweise geschlossen. „Bringen Sie bitte alles mit, was Sie für Ihre Reise benötigen“, informiert die französische Staatsbahn SNCF ihre Passagiere. Aha. Was niemand ahnt: Fehlender Proviant wird auf dem Weg nach Straßburg schon bald unser geringstes Problem sein.
Einmal im Monat pendelt der gesamte Tross des Europaparlaments von Brüssel nach Straßburg. Für vier Tage debattieren und votieren die 705 Abgeordneten aus den 27 EU-Staaten am Zweitsitz der Institution in der französisch-deutschen Grenzstadt. Mit auf Reisen sind Mitarbeiter und kistenweise Akten. Die Pendelnden kostet das Nerven, Europas Steuerzahler Geld.
Prüfer des Europäischen Rechnungshofs haben vor einigen Jahren nachgerechnet: Durch eine Aufgabe des Straßburger Sitzes ließen sich 114 Mill. Euro pro Jahr sparen. Das Gros entfällt auf Unterhalt und Ausstattung der Parlamentsgebäude in Straßburg. 34 Mill. Euro gehen für Reisekosten drauf. Die Prüfer zitieren Umfragen, wonach zwei Drittel der EU-Abgeordneten lieber permanent in Brüssel bleiben würden. Dafür müssten allerdings einstimmig die europäischen Verträge geändert werden – utopisch.
An Bord von TGV 9870 beginne ich ebenfalls an der Sinnhaftigkeit solcher Doppelstrukturen zu zweifeln, als ich mich selbst zum ersten Mal auf die Reise gemacht habe. Das liegt weder an den Berechnungen der EU-Prüfer noch an dem heruntergezogenen Rollladen im Bordbistro, sondern am Blick durchs Panoramafenster. Seit einer ganzen Weile blicken meine Mitfahrer und ich auf dieselbe Ortschaft am Horizont, die allmählich aus dem Dunkel erwacht. Der Zug steht.
Der ausnehmend freundliche Schaffner mit Schirmmütze hat schlechte Nachrichten: ein technischer Defekt am Zug. Wir würden in einigen Minuten in den Startbahnhof zurückrollen. Pardon. Er erläutert die Situation in so reizend zugewandter und geduldiger Art – auf Französisch, Flämisch, Englisch –, dass man ihm unmöglich böse sein kann. Die Stimmung an Bord ist geradezu gelöst.
Mir schwant: Meine Mitreisenden erleben das Ganze womöglich nicht zum ersten Mal. Die Deutsche Bahn scheint mit ihrer chronischen Unzuverlässigkeit in guter Gesellschaft zu sein. Vertraut man Erfahrungen leidgeplagter Parlamentsmitarbeiter, gibt es eine zuverlässigere Alternative zu TGV und ICE: den Thalys, einen grenzüberschreitenden Hochgeschwindigkeitszug, der Brüssel, Paris und andere europäische Metropolen verbindet. Bahnfahrer, die regelmäßig zwischen Brüssel und Straßburg pendeln, wissen jedenfalls zu berichten: In den TGVs der französischen Staatsbahn SNCF streikt entweder die Technik – oder das Personal.
Schon im Januar hatte der wiederkehrende Arbeitskampf in Frankreich den Betrieb im EU-Parlament beeinträchtigt. Reihenweise machten sich Europas Volksvertreter frühzeitig auf die Rückreise nach Brüssel oder in ihre Heimat, um dem landesweiten Ausstand zu entgehen, der natürlich auch vor Straßburg nicht haltmachte. Seinerzeit sahen sich die Parlamentsoberen gezwungen, wichtige Abstimmungen zu verschieben, um nicht ein allzu verzerrtes Ergebnis zu riskieren.
Unser Schaffner im TGV 9870 sieht inzwischen auch so aus, als würde er am liebsten auf der Stelle seine Arbeit niederlegen. Der Strom ist ausgefallen. Die freundliche Gelassenheit ist aus seinem Gesicht verschwunden. Unter der Schirmmütze haben sich Schweißperlen gesammelt. Er flitzt von einem Ende des Zuges zum anderen, um an Informationen zu kommen. Schließlich setzt sich der Zug langsam in Bewegung. Nach vier Stunden und insgesamt 16 Kilometern Fahrtstrecke können alle aussteigen – nicht am Ziel in Straßburg, sondern zurück in Brüssel. Am Bahnsteig stehen Kollegen bereit, um den Gestrandeten Wasserflaschen zu reichen.