In den Westen auf einen Stich
Wenn sich die Russen derzeit etwas nicht vorstellen können, dann ist es der Unmut der politisch Verantwortlichen in Westeuropa über die angeblich so geringe Quote bei der Impfung gegen Corona. Eine Quote von 65% oder darüber sei ja einfach fantastisch, heißt es nahezu unisono. Man verstehe nicht, was die westlichen Regierungen da noch von ihren Bürgern wollten. In Russland sind aktuell 44% der Gesamtbevölkerung und 55,5% der Erwachsenen vollständig immunisiert. Und zwar mit einem der russischen Impfstoffe.
Dass die Russen Impfmuffel sind und das einer der Gründe für die hohe Übersterblichkeit ist, ist das eine Problem. Das andere ist, dass diejenigen, die geimpft sind, nicht in der Welt herum- und eben auch nicht nach Westeuropa reisen können. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und die Europäische Arzneimittelagentur (EMA) nämlich haben bisher keinen einzigen der russischen Impfstoffe anerkannt (weshalb übrigens auch die russischen Behörden umgekehrt die westlichen Impfstoffe bis heute nicht zugelassen haben).
Inzwischen haben manche Russen es einfach satt, bei den meisten Auslandsreisen komplizierte Prozeduren bis hin zur Quarantäne durchlaufen zu müssen. Und inzwischen haben sie einen Schleichweg gefunden, um zur westlichen Impfung zu kommen: Sie fliegen auf einen Stich in den Westen.
Die russische Tourismusindustrie und ihre Partner im Westen haben auf den Bedarf an medizinischen Trips bereits mit Angebotspaketen reagiert. Seit September, als die ersten Angebote aufzutauchen begannen, sei die Nachfrage deutlich angestiegen, schrieb kürzlich die russische Wirtschaftszeitung „RBK“, die sich in den Reisebüros des Landes ein Bild davon machte. Maja Lomidze, Chefin der Assoziation russischer Reiseveranstalter, und Alexander Osaulenko, Vizepräsident des russischen Verbandes der Tourismusindustrie, bestätigen das. Ein Vertreter des Reiseveranstalters Russkij Express ortet „sogar einen Ansturm“. Jede Woche bringe sein Unternehmen bis zu 50 Personen nach Serbien, nicht ganz so viele zudem nach Kroatien.
Wie Lomidze gegenüber „RBK“ erklärte, seien anfänglich Serbien und Deutschland die vorrangigen Destinationen für eine Erstimpfung oder – häufiger – für eine Auffrischung gewesen. Inzwischen seien Kroatien und Griechenland hinzugekommen. Dies auch deshalb, weil die Russen aus praktischen Gründen das in Serbien nicht angebotene Vakzin von Johnson & Johnson bevorzugen, bei dem es im Unterschied zu den Konkurrenzprodukten nur einen Stich brauche. Marktteilnehmer nennen auch Ungarn und Österreich als Impf-Ziele.
Preislich bewege man sich Lomidze zufolge bei 60000 Rubel (gut 700 Euro) für eine – meist dreitägige – Tour, die Impfung selbst nicht inkludiert. Nur in Serbien werde der Stich gratis gesetzt, in Kroatien koste er etwa 200 Euro, in Deutschland 700 bis 800 Euro. Für Griechenland wird ein Preis von 560 Euro genannt – allerdings nur für den Fall, dass man als Individualtourist reist und nicht in einem Reisebüro bucht. Gründe, diesen Aufwand auf sich zu nehmen, gibt es bei den Russen genug. Neben der generellen Reiselust und Dienstreisen vor allem das verbreitete Phänomen, dass viele Verwandte im Westen haben oder die Kinder dort studieren.
Gewiss, dies alles betrifft nur die dünne Ober- und die durch die jahrelang anhaltende Wirtschaftskrise wieder geschrumpfte Mittelschicht. Dem Kreml ist ihre Vorliebe für den Westen und den westlichen Lebensstil seit langem ein Dorn im Auge. Um sie ans eigene Land zu binden und gleichzeitig die russischen Produkte und Dienstleistungen auf Vordermann zu bringen, hat er mit den Jahren immer mehr Initiativen gestartet. Abschottung und Importsubstitution sind zwei der Hauptschlagwörter in der russischen Wirtschaft. Dazu gehört auch, dass durch die fehlende Anerkennung der westlichen Impfungen die Menschen zum Urlaub im Inland gezwungen werden.
Zur Impfung mit einem russischen Wirkstoff wollen sich indes viele nach wie vor nicht zwingen lassen. Das muss nicht verwundern: Der jüngsten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Levada-Center zufolge haben nämlich 50% der Russen keine Angst davor, an Covid-19 zu erkranken.
(Börsen-Zeitung,