Russland

In der Pandemie flop, in der Wirtschaft top

Russlands laxer Umgang mit der Pandemie hat dazu geführt, dass die Wirtschaft im Gegensatz zu den Ländern im Westen brummt. Noch dazu könnte der russische Impfstoff Sputnik V ein echter Exportschlager werden.

In der Pandemie flop, in der Wirtschaft top

est Moskau

Als Wolodja Lipatow, der nicht mit seinem richtigen Namen genannt werden möchte, sich dieser Tage zum Impfen in einer Moskauer Klinik anmelden wollte, staunte er sehr. Zwar wusste der 52-jährige Architekt, dass er im Unterschied zum Westen nicht darauf warten musste, bis alle Rentner gegen Covid-19 immunisiert sind. Aber dass er sofort mit der Familie hätte kommen können, fand er seltsam. Am Ende beschloss er, noch zu warten. „Die geringe Nachfrage nach der Impfung bei uns hat unsere Skepsis eher noch bestärkt“, sagt Wolodja.

Der Ansturm auf die russische Impfung Sputnik V, der bekanntesten unter den drei offiziell registrierten Vakzinen, hält sich im Land ihres Entstehens in Grenzen. 62% wollen sich einer neuen Umfrage zufolge aus Angst vor möglichen Nebenwirkungen nicht impfen lassen. Das ist umso bemerkenswerter, als das Vakzin im Rest der Welt immer begehrter wird. Inzwischen denken auch Deutschland und Österreich über eine Produktion nach. Die anfängliche Skepsis ist weg, seit die Fachzeitschrift „The Lancet“ Anfang Februar mitgeteilt hat, dass der Wirkungsgrad von Sputnik V bei 91,6% liegt. Und die Dosis ist mit 10 Dollar deutlich billiger als Konkurrenzprodukte.

In Russland hingegen sehen sich die Behörden gezwungen, die Menschen zum Nadelstich zu locken. Rentnern wird die Wiedereinführung der Freifahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln angeboten, die zuvor ausgesetzt worden ist, damit sie zuhause bleiben. Auch das dominante Staatsfernsehen wird massiv eingespannt, um die Botschaft unters Volk zu bringen. Doch dieses will nicht so recht. Dabei sollten dem staatlichen Plan nach bis Herbst 60% der Bevölkerung ge­impft sein. Bislang haben verfügbaren Daten zufolge aber gerade mal 2,4% der Bevölkerung – in Moskau immerhin 4,7% – zumindest die erste Impfung erhalten. Den Vergleich mit der von diversen Impfpannen gezeichneten EU braucht Russland zwar nicht zu scheuen. In den USA aber haben schon 13% zumindest eine Impfung und 6% beide Dosen erhalten. In Großbritannien ein Viertel.

Russland tickt offenbar überhaupt anders. Und zwar nicht nur das Volk, sondern auch die Behörden. Während nämlich im Westen weiterhin Lockdowns gelten, nimmt das Leben in Russland längst seinen gewohnten Lauf. Gewiss, die Leute schützen sich mit Masken, aber viele denken ohnehin, dass sie bereits an Covid-19 erkrankt waren. Das wäre auch nicht verwunderlich, war doch der Um­gang mit der Pandemie von Anfang an relativ locker. Im Unterschied zum Westen verfügte Russland im Frühjahr 2020 nur ganz am Anfang einen Lockdown. Wie andere Schwellenländer auch habe Russland zu hohe finanzielle Ausgaben für weitere Lockdowns gescheut, erklärt Wjatscheslaw Smoljaninow, stellvertretender Chefökonom der Moskauer Investmentgesellschaft BCS Global Markets, auf Anfrage. „Man agierte eher nach der Devise: Lebt, arbeitet, zeugt Kinder – und sterbt, wenn es nicht zu vermeiden ist.“

Das hat einerseits zu den weltweit vierthöchsten Infektionszahlen ge­führt. Und auch die Übersterblichkeit war unter den europäischen und den G20-Staaten die zweithöchste, wie der Internationale Währungsfonds (IWF) kürzlich konstatierte – laut Vizepremierministerin Golikowa betrug sie 17,9%, wobei 81% davon Corona zuzuschreiben seien. Andererseits kam die Wirtschaft weitaus besser weg als in anderen Schwellenländern oder den westlichen Industriestaaten. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) fiel im vergangenen Jahr um nur 3,1%, schätzt das staatliche Statistikamt Rosstat. Im Vergleich: Im Finanzkrisenjahr 2009 betrug das Minus 7,8%. In der EU wird mit einem Minus von deutlich über 6% gerechnet. Der Großteil von Russlands BIP-Rückgang lag an beispiellosen Turbulenzen auf dem Markt für Öl, dem wichtigsten russischen Exportprodukt.

Abstand zum Westen stabil

Russland hatte in der Pandemie den Vorteil, dass der Dienstleistungssektor, der im Westen ein wesentlicher Wirtschaftsfaktor und von den Lockdowns empfindlich getroffen ist, in der BIP-Struktur deutlich weniger Bedeutung hat. Zugute kommt dem Land auch die Tatsache, dass die Regierung seit dem Ölschock 2014 eine strenge Budgetdisziplin einhält und überschüssige Einnahmen aus dem Ölverkauf als Reserven hortet. Die neue Sparsamkeit zeigte sich auch darin, dass Russland deutlich weniger zur Pandemiebekämpfung ausgab als andere. Die zusätzlichen Budgetausgaben dafür hätten sich auf nur 2,9% des BIP belaufen, schätzt der IWF.

Inzwischen hat sich auch der Ölpreis wieder massiv erholt. Russlands internationale Gold- und Währungsreserven sind mit aktuell 585,7 Mrd. Dollar seit Monaten relativ stabil nahe am Allzeithoch. Und die Staatsschulden sind 2020 zwar um 40% gestiegen, mit nunmehr 17,8% des BIP aber weiterhin so niedrig wie in kaum einem zweiten Land der Welt.

Da sich der Wirtschaftseinbruch 2020 in Grenzen hielt, wird freilich auch der Aufschwung 2021 moderater ausfallen, sodass der Abstand zum Westen nicht schrumpft. Die Zentralbank rechnet mit einem BIP-Zuwachs von 3 bis 4%. Damit sich das Tempo beschleunigt, rät der IWF, den Leitzins um einen halben Prozentpunkt abzusenken. Die Zentralbank aber, die ihn bereits im Vorjahr von 6,26 auf den historischen Tiefststand von 4,25% gesenkt hatte, ist vorerst zu keinen weiteren Schritten bereit. Zu ungewiss ist der Konflikt mit dem Westen aufgrund der Verhaftung des Oppositionellen Alexej Nawalny. Zu ungewiss auch die Entwicklung der Pandemie. Und zu unabsehbar die Entwicklung der Inflation, die soeben wieder auf über 5% angezogen hat, wobei sie bei Lebensmitteln im Vorjahr gar 6,7% betragen hatte, was auch am Importembargo für westliche Agrarprodukte liegt.

Und auch ob die Impfbereitschaft steigt, ist noch nicht abzusehen. Immerhin hat Sputnik V das Zeug, zum Exportschlager zu werden, der im Unterschied zu den Rohstoffen zwar nicht viel Geld, aber doch ein gutes Image bringt. Gut möglich, dass am Ende weltweit viel mehr Menschen mit Sputnik V geimpft sind als in Russland selbst.