Im BlickfeldFachkräftemangel

Italien ist auf Immigration angewiesen

Italiens Premierministerin Giorgia Meloni will die illegale Einwanderung eindämmen. Gleichzeitig erhöht sie die legalen Einwanderungskontingente, um den Arbeitskräftemangel vieler Betriebe zu lindern. Darüber spricht Meloni aber nicht gerne.

Italien ist auf Immigration angewiesen

Italiens heuchlerische Einwanderungspolitik

Premierministerin Giorgia Meloni will die illegale Einwanderung bremsen. Gleichzeitig erhöht sie auf Wunsch der Wirtschaft die legalen Immigrationskontingente.

Von Gerhard Bläske, Mailand

Angetreten ist Italiens Premierministerin Giorgia Meloni im Wahlkampf mit dem Versprechen, die illegale Einwanderung deutlich zu reduzieren. Dazu soll neben Vereinbarungen mit afrikanischen Staaten auch ein Abkommen mit Albanien beitragen. Von August an sollen jährlich rund 38.000 Flüchtlinge bis zur Klärung ihres Asylantrags in zwei Aufnahmezentren auf der anderen Seite der Adria gebracht werden. Von dort sollen sie dann, im Fall eines negativen Bescheids der italienischen Behörden, unmittelbar abgeschoben werden. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sieht das Abkommen als Beispiel für ein Denken „außerhalb herkömmlicher Denkmuster“.

Erfolg für Meloni

Für Meloni ist das ein Erfolg. Denn sie steht unter Druck. Und sie muss ihren Wählern nach dem starken Anstieg der Flüchtlingszahlen im vergangenen Jahr Ergebnisse liefern. Doch Druck kommt auch aus der Wirtschaft, die angesichts des Personalmangels in vielen Branchen mehr legale Einwanderung fordert.

Meloni liefert, spricht aber nicht gern darüber. Sie hat die legalen Einwanderungsquoten deutlich erhöht und die Verfahren vereinfacht. Damit hat sie zwar geholfen, die Personalnot vieler Unternehmen, etwa in der Landwirtschaft, in der Gastronomie oder im Tourismus, in Pflegeberufen, in der Bauindustrie oder im Transportsektor, zu lindern. Sie hat damit aber auch der Mafia eine neue Einkommensquelle erschlossen.

Alarm geschlagen

Meloni selbst hat deshalb Alarm geschlagen. Denn merkwürdigerweise ist die Nachfrage nach Saisonarbeitskräften in der Landwirtschaft vor allem in der Region Kampanien rund um Neapel besonders hoch. Das ist unglaubhaft. Denn Kampanien zählt in diesem Sektor nur etwa halb so viele Unternehmen wie Apulien: Doch aus Kampanien kamen 157.000 Anfragen für Saisonarbeiter, aus Apulien nur 20.000. Auf Basis dieser Anfragen werden den Unternehmen aber die Arbeitskräfte zugeteilt. Die Regierungschefin will die Regelung jetzt ändern sowie mehr Kontrollen durchführen.

Fingierte Verträge

Bei der Einwanderung halten gleich mehrere Stellen die Hand auf. Es gibt Unternehmen, die Arbeitskräfte anfordern, aber gar keine brauchen. Viele der Immigranten, die mit der Aussicht auf ein legales Arbeitsverhältnis und damit einen Aufenthaltsstatus kommen, können so zwar ins Land einreisen, erhalten dann aber keinen Vertrag und sind damit illegal. Nach Informationen des NGO „Ero Straniero“ haben nur 30% der 2022 auf diese Weise ins Land Gekommenen einen Arbeitsvertrag erhalten.

Sie müssen dennoch einen Obolus an das Unternehmen zahlen, das ihnen mit dem fingierten Vertrag die Einreise ermöglichte. Noch mehr verdienen aber kriminelle Organisationen wie Mafia, Camorra oder ’Ndrangheta. Sie knöpfen den damit illegalen Einwanderern zigtausende Euro ab, die diese nicht haben und abarbeiten müssen. Die Betroffenen kommen praktisch nie aus der Schuldenspirale. Sie leben als Wanderarbeiter in Barackensiedlungen und ernten für 2 Euro die Stunde Oliven, Tomaten und Obst, säen oder bewässern Felder. Davon profitieren auch die Verbraucher.

Tausende illegal eingewanderte Arbeitskräfte

„Ohne Einwanderung könnte fast ein Drittel der Ernte nicht eingebracht werden“, sagt Ettore Prandini, Chef des Landwirtschaftsverbandes Coldiretti. Offiziell beschäftigt die Landwirtschaft 362.000 Ausländer als Saisonarbeitskräfte, inoffiziell kommen viele tausend Illegale dazu. Die meisten offiziell Beschäftigten kommen aus Nicht-EU-Ländern, vor allem aus Indien, Marokko, Albanien, dem Senegal, Pakistan, Tunesien und Nigeria. Carlo Sangalli, Chef des Handelsverbandes Confcommercio, fordert mehr Einwanderung: „Vor allem im tertiären Sektor fehlen Arbeitskräfte.“

Der frühere IWF-Ökonom Carlo Cottarelli oder jüngst Notenbankchef Fabio Panetta teilen diese Einschätzung. Laut Panetta wird das Land bis 2040 trotz der jährlichen Einwanderung von derzeit mehr als 150.000 Personen aus demografischen Gründen 5,4 Millionen Personen im arbeitsfähigen Alter verlieren. Das liegt an der niedrigen Geburtenrate von 1,2 Kindern pro Frau und an der massiven Emigration gut ausgebildeter einheimischer Kräfte, die das Land verlassen.

Viele ziehen weiter in den Norden

Unter den ankommenden Einwanderern aber ziehen viele angesichts der vergleichsweise großzügigen Hilfen in Österreich oder Deutschland gleich weiter in den Norden. Die Zahl der Einwohner mit Migrationshintergrund im Verhältnis zur Bevölkerung ist in Italien nur etwa halb so hoch wie in Deutschland.

Italien ist unattraktiv für Arbeitswillige. Die Journalistin Charlotte Matteini hat sich fingiert auf Arbeitssuche begeben. Die Ergebnisse sind erschütternd. Für Saisonjobs etwa in der Gastronomie, in Hotels oder anderen Sektoren werden teilweise nur 600 Euro brutto im Monat gezahlt, ohne dass eine Unterkunft gestellt oder auch nur ein freier Tag in der Woche gewährt wird. Durchschnittlich sind 1.200 bis 1.600 Euro monatlich üblich – bei Arbeitszeiten von 7 bis 19 Uhr. Häufig werden ein eigenes Auto, englische Sprachkenntnisse, Berufserfahrung und Flexibilität verlangt.

Das Jammern ist wohlfeil

Das Jammern der Wirtschaft über den Mangel an Arbeitskräften ist deshalb teilweise wohlfeil. Laut OECD stagnieren die Real-Einkommen in Italien seit rund 30 Jahren. Das liegt auch an der seit Jahrzehnten kaum gestiegenen Produktivität. Zwischen 2019 und 2021 haben allein mehr als 21.000 gut ausgebildete Mediziner, darunter 14.000 Spezialisten, das Land gen Israel, USA, Deutschland, Frankreich, Großbritannien oder Schweiz verlassen. Die Entwicklung hat sich laut Filippo Anelli, Präsident der Vereinigung der Chirurgen und Zahnärzte, seit 2022 beschleunigt. Inzwischen seien es doppelt so viele, schätzt er. Nur in Portugal und in Griechenland verdienen Mediziner im EU-Vergleich weniger. Gut ausgebildete Italiener gehen nicht nur wegen der schlechten Bezahlung, sondern auch wegen fehlender Karrierechancen und Jobs.

Bessere Löhne würden helfen

Obwohl die Flüchtlinge meist nicht qualifiziert sind, sieht Carlo Cottarelli, Professor an der Katholischen Universität Mailand, keine Alternative zu mehr Einwanderung: „Viele Unternehmen, vor allem in wirtschaftsstarken Regionen, finden kein qualifiziertes Personal mehr.“ Die Ankommenden müssten ausgebildet werden. Dass die Regierung die Kontingente für die legale Einwanderung erhöht hat, findet er gut. Es reiche aber nicht: „Wir brauchen zwischen 200.000 und 250.000 Zuwanderer im Jahr, um unsere Renten finanzieren zu können.“ Vielleicht würde es erst mal helfen, bessere Löhne zu zahlen. Dann würden nicht so viele gut ausgebildete Italiener abwandern.

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