Japan steht unter Inflationsschock
Japan steht unter Inflationsschock
Wegen der gestiegenen Preise schnallen die Japaner den Gürtel enger. Eine üppige Lohnrunde im Frühjahr soll den Privatkonsum wieder stimulieren.
Von Martin Fritz, Tokio
Im Januar erreichte Japans Inflationsrate mit 4,0% ein Zweijahreshoch und war die höchste unter den G7-Ländern. Seit April 2022 steigen die Preise in Japan stark. Die Verbraucher reagieren, indem sie sparsamer leben: Sie kaufen in günstigeren Supermärkten, greifen zu billigeren Marken und vermeiden größere Anschaffungen. Laut offiziellen Daten essen sie so wenig Gemüse wie seit 23 Jahren nicht mehr, da sie den Konsum von teurem Weißkohl, Chinakohl und Brokkoli reduzieren. Der Konsumaktivitäts-Index der Notenbank zeigt ebenfalls eine Verlangsamung der realen Privatausgaben: Im Dezember fiel er um 0,7%, im Januar um 1,3%.
Keine „normale“ Volkswirtschaft
Anekdoten und Daten zum Privatkonsum lassen sich so interpretieren, dass die Verbraucher in Japan sich noch nicht an die neue Wirklichkeit angepasst haben, nämlich dass in einer „normalen“ Volkswirtschaft Preise und Löhne steigen. Denn Japan war seit Ende der 1990er Jahre eben keine normale Volkswirtschaft. Preise und Reallöhne stagnierten oder sanken leicht. Die Folge war eine „deflationäre Denkweise“, wie es der frühere Notenbankchef Haruhiko Kuroda formulierte: Die Konsumenten waren daran gewöhnt, dass das Bier in der Kneipe, die Pommes bei der Bürgerkette, der Kühlschrank und das Auto, aber auch Dienstleistungen wie Gebühren für Pakete und Parkplätze nicht teuer wurden. Sie waren auch daran gewöhnt, dass sie Haus oder Wohnung mit Hypothekenkrediten zu Niedrigzinsen finanzieren konnten, aber es auf dem Sparbuch und für Staatsanleihen auch keine Zinsen gab.

Man kann nicht behaupten, dass die Konsumenten diese Umstände ablehnten oder darunter litten. Die Deflation war nicht so stark, dass es zu der lehrbuchmäßigen Kaufzurückhaltung kam. Doch die leicht sinkenden Löhne und Preise spiegelten die wirtschaftliche Schwäche von Japan wider. Banken und Unternehmen hatten die Schuldenberge abgetragen, die beim Platzen der Blasenwirtschaft der 1980er Jahre entstanden waren, aber danach horteten sie ihr Geld und Kapital aus Angst vor neuen ökonomischen Turbulenzen. Die Firmen investierten zögerlich, die Banken vergaben nur „sichere“ Kredite. Der damalige Premier Shinzo Abe und Notenbank-Gouverneur Kuroda wollten diese Stagnation beginnend im Jahr 2013 mit einer ultraexpansiven Geldpolitik, höheren Staatsausgaben und ökonomischen Reformen überwinden und eine neue Dynamik in der Privatwirtschaft entfachen.
Neue Phase
Das Maßnahmenpaket der „Abenomics“ unterstützte einen zyklischen Konjunkturaufschwung. Die Abwertung des Yen als indirekte Folge der radikalen Geldpolitik trieb die Gewinne von Unternehmen wie Toyota im globalen Wettbewerb nach oben. Dennoch erreichte die Bank of Japan ihr Inflationsziel von 2% nicht. Erst die globale Angebotsverknappung beim Auslaufen der Pandemie taute die eingefrorenen Preise in Japan auf. Der regelrechte Absturz der japanischen Währung verteuerte alle Importwaren zusätzlich. Nun konnten die Unternehmen in Japan eigene Preiserhöhungen rechtfertigen. Seit dem Frühjahr 2022 liegt die Inflation in Japan über dem offiziellen Ziel von 2%.
Fokus auf höhere Nahrungspreise
Die Macht der Deflation schien gebrochen, sodass der neue Notenbankchef Kazuo Ueda die ultralockere Geldpolitik seines Vorgängers beendete. Ueda erhöhte ab März 2024 den Leitzins in drei Schritten auf 0,5%. Zur Begründung verwies er auf eine positive Spirale aus steigenden Preisen und Löhne, die in Gang gekommen zu sein schien. Aus Sicht der japanischen Notenbank basiert die hohe Inflationsrate vor allem auf den gestiegenen Preisen von verarbeiteten Nahrungsmitteln. Aber rechnet man Lebensmittel und Energie aus der Teuerungsrate heraus, sinkt die Inflation für Januar auf das Zweijahrestief von 1,6%. Doch Verbraucher nehmen Nahrungspreise bei ihren Einkäufen eben besonders stark wahr. Gouverneur Ueda warnte daher kürzlich vor, dass dadurch die Inflationserwartungen der Japaner nach oben gingen, was die Normalisierung der Geldpolitik komplizieren würde.
Aber es war wohl mehr der Rückgang der Reallöhne in den vergangenen knapp drei Inflationsjahren um insgesamt 3,7%, der die Konsumlaune der Japaner kontinuierlich getrübt hat. Deswegen ruhen die Hoffnungen von Ueda und seiner Mitstreiter auf der diesjährigen Lohnrunde, die endlich dauerhaft positive Reallöhne bringen soll. Tatsächlich meldete Rengo, mit 7 Millionen Mitgliedern der größte von drei Gewerkschaftsverbänden, für die diesjährigen Shunto-Tarifverhandlungen einen Abschluss von durchschnittlich +5,46%, der ab dem 1. April wirksam wird. Viele Unternehmen gaben an, die höchsten Forderungen ihrer Firmengewerkschaften seit 34 Jahren komplett erfüllt zu haben.
Deutliches Lohnplus
Sie können sich diese Großzügigkeit locker leisten: Im auslaufenden Geschäftsjahr mit Bilanzstichtag 31. März verdienten sie laut einer Schätzung des Vermögensverwalters Asset Management One knapp 8% je Aktie das vierte Jahr hintereinander mehr, 2025 soll es um weitere 9% nach oben gehen. Auch dank der Zurückhaltung der Arbeitnehmer bei den Einkommen steigerten die Unternehmen der Japan AG ihren Gewinn je Aktie um das Dreifache gegenüber dem Höhepunkt der Spekulationsblase von 1989/1990. Währenddessen sanken die preisbereinigten Löhne und Leistungen pro Arbeitnehmer seit ihrem Höchststand von 1996 bis zum Beginn der Pandemie um insgesamt 3%. Die aktuelle Großzügigkeit hat angesichts des demografisch bedingten Mangels an Arbeitskräften auch einen strategischen Aspekt: Höhere Löhne sollen den Firmen helfen, talentierte Hochschulabsolventen anzulocken.
Die große Frage lautet nun, ob der absehbar kräftige Schluck aus der Lohnpulle die Konsumfreude der Japaner wieder stimulieren wird, wie es viele Analysten vorhersagen. Doch Zweifel sind angebracht: Denn in der Regel macht die Anhebung der Basislöhne nur rund die Hälfte der offiziellen Abschlusszahl aus, die andere Hälfte betrifft die Anhebung des jährlichen Zuschlags für die Dauer der Firmenzugehörigkeit. Der jetzt ausgehandelte Tarifabschluss gilt zudem nur für Großunternehmen, die rund 30% der Erwerbstätigen in Japan beschäftigen. Viele kleinere Firmen werden ihre Löhne voraussichtlich nicht so kräftig anheben. Am Ende könnte das Lohnplus gerade reichen, um den starken Anstieg der Lebenshaltungskosten auszugleichen. Dann würde nicht nur der erhoffte Schub für den Privatkonsum ausbleiben. Auch der Gewöhnungsprozess der Verbraucher an die Rückkehr der Inflation würde sich dann wohl weiter in die Länge ziehen.