Jede Menge Förderbedarf
Notiert in London
Jede Menge Förderbedarf
Von Andreas Hippin
Früher hätte man alles getan, damit der eigene Nachwuchs nicht als lernbehindert abgestempelt wird. Egal ob Legasthenie oder ADHS – mit so einem Eintrag in die Akte musste man fürchten, dass einem im späteren Leben viele Wege nicht mehr offenstehen. Es kann nicht an Andreas Steinhöfels Kinderbuchserie über die Abenteuer des „tiefbegabten“ Rico und seines Freunds Oskar liegen, dass britische Eltern damit keine Probleme mehr haben.
Die Zahl der Kinder, die wegen Lernschwierigkeiten bei Prüfungen mehr Zeit eingeräumt bekommen, ist auf fast ein Drittel gestiegen. Der Aufsicht Ofqual zufolge sind es 420.000. Vor gut einem Jahrzehnt waren es dem Bildungsministerium zufolge nur 107.000.
Eine halbe Stunde extra
Wer seinen Anspruch erfolgreich geltend machen kann, erhält für eine zweistündige Prüfung 30 Minuten mehr Zeit. Wer komplexere Probleme glaubhaft machen kann, bekommt noch mehr.
Manche Lehrer haben den Verdacht, dass es vielen Eltern darum geht, mithilfe der Diagnose bessere Noten zu erzielen. Besonders versiert sind dabei offenbar diejenigen, die ihren Nachwuchs auf Privatschulen schicken. Denn dort erhalten 42% Extrazeit. In den öffentlichen Schulen profitieren davon lediglich 27%.
„Perverse Anreize“
Manche Schuldirektoren unterstellen, dass andere Schulen die Gewährung von Extrazeit nutzen, um bei standardisierten Prüfungen einen höheren Notendurchschnitt ihrer Schüler zeigen zu können. Das seien eben die „perversen Anreize“ des aktuellen Systems.
Bei anderen rufen solche Anschuldigungen Kopfschütteln hervor. Es sei doch nicht überraschend, dass die Zahl der Schüler, für die solche Arrangements gelten, gestiegen sei, sagte Pepe Di’Iasio, der Generalsekretär der Association of School and College Leaders, dem „Independent“. Schließlich habe auch die Zahl der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf und psychischen Problemen zugenommen.
Sonderpädagogische Betreuung kostet viel
Das mag auch daran liegen, dass die Lokalverwaltungen die Kinder öffentlicher Schulen während der Pandemie weitgehend sich selbst überlassen haben und noch lange an Schulschließungen festhielten. Es gibt jede Menge Förderbedarf. Dementsprechend explodieren die Ausgaben für sonderpädagogische Betreuung (SEND). Vor einem Jahrzehnt lagen sie noch bei 4 Mrd. Pfund. Für 2026 werden sie von der County Council Association bei 12 Mrd. Pfund erwartet.
Ungeachtet allen tatsächlichen Bedarfs lohnt es sich jedoch, die Eltern etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Denn viele sind zu fast allem bereit, um den Kindern einen guten Start zu ermöglichen. Dazu gehört auch, sich vorübergehend in unmittelbarer Nähe der Wunschschule einzumieten, um dort einen Platz zu ergattern. Viele könnten die SEND-Kosten auch selbst tragen. Das würde so manch eine Lokalverwaltung vor dem finanziellen Kollaps bewahren.
Keine Stigmatisierung mehr
Schön ist jedenfalls, dass Kinder mit Förderbedarf offenbar nicht mehr gesellschaftlich stigmatisiert werden.