Moskau

Komplizierter als Immanuel Kant

Um Boris Gryslow ist es leise geworden. Gewiss, der heute 70-Jährige ist bevollmächtigter Vertreter des russischen Präsidenten in der Ukraine-Kontaktgruppe. Wirklich öffentlich im Gespräch aber war der Mann früher, als er Innenminister und Chef der...

Komplizierter als Immanuel Kant

Um Boris Gryslow ist es leise geworden. Gewiss, der heute 70-Jährige ist bevollmächtigter Vertreter des russischen Präsidenten in der Ukraine-Kontaktgruppe. Wirklich öffentlich im Gespräch aber war der Mann früher, als er Innenminister und Chef der alles dominierenden Kreml-Partei „Einiges Russland“ war. Und am meisten machte er als Vorsitzender der Staatsduma, also des russischen Parlaments, in den Jahren 2003 bis 2011 mit kuriosen Sprüchen von sich reden. In die damalige Zeit fällt auch sein Bonmot, dass „das Parlament kein Ort für Diskussionen“ sei. Das widerspricht zwar der Ur-Idee und dem eigentlichen Wortsinn. Aber was die russische Realität betrifft, so hatte Gryslow die Sache natürlich richtig erfasst. Und gerade auch er selbst hat ausreichend dazu beigetragen, dass das Parlament zum Ort des Monologs und der blinden Zustimmung geworden ist.

Das blieb natürlich nicht ohne Folgen. Schon in den ersten zehn Jahren nach Wladimir Putins Amtsantritt begannen Juristen vermehrt darauf hinzuweisen, dass die Gesetze qualitativ immer schlechter wurden. Soll heißen, sie waren zunehmend weniger ausgereift, unvollständig, widersprüchlich. Die mangelnde Diskussion wurde auf dem Papier sichtbar, das Leben für Juristen schwerer oder – sagen wir – zumindest komplizierter.

In der Kompliziertheit hat sich seither offenbar nichts geändert. Ja sie nahm anscheinend weiter zu. Und sie gewann vor allem im vergangenen Jahr an Fahrt. Daran soll die Verfassungsreform aus dem Vorjahr, die Putins Macht erweiterte und jene der Opposition einschränkte, ihren Anteil haben, wobei die Verfassung selbst und die mit ihr verbundenen normativen Akte immer weniger verständlich geworden sind. Das jedenfalls behauptet das Institut für staatliche und munizipale Verwaltung der renommierten Moskauer Wirtschaftsuniversität Higher School of Economics (HSE). Das Institut ging vor einiger Zeit die russischen Gesetze hinsichtlich ihrer syntaktischen Komplexität durch und fand dabei heraus, dass die Lesbarkeit der Gesetze von Jahr zu Jahr geringer, sprich: schlechter wurde.

Die Wissenschaftler haben auf der Basis der Sprachwissenschaft einen Kriterienkatalog und im Weiteren einen Index für die syntaktische Komplexität erstellt. Und sie haben die Gesetze mit dem wahrhaft schwierigen Werk „Kritik der reinen Vernunft“ des Philosophen Immanuel Kant verglichen. Und siehe da: Während Ende 2019 77 russische Gesetze schwieriger zu erfassen waren als das Werk des Philosophen, waren es 2020 bereits 87.

Interessant ist übrigens, dass zu den kompliziertesten Gesetzen die Regelungen der Pensionen und der sozialen Absicherung für Bewohner der Krim gehören. Experten erklären dies damit, dass diese Fragen nach der Annexion der Krim in aller Eile geklärt werden mussten und der rechtliche Status dieser Gebiete schon so ziemlich vertrackt ist. Im vergangenen Jahr dann trug eben die Verfassungsreform zur Verkomplizierung bei. Der Vorsitzende des Duma-Auschusses für Staatsverwaltung und Gesetzgebung, Pawel Krascheninnikow, versprach jetzt immerhin, man werde die Gesetzgeber wieder zur Achtung vor der russischen Sprache und vor den Menschen, die die Gesetze lesen, bringen.

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Aus Anlass des Internationalen Tages der Jugend am 12. August hat Russlands größte Bank, Sberbank, ihre hausinterne Auswertung des Investitionsverhaltens der russischen Jugend veröffentlicht. Demnach gehören 50% der zwischen dem 30. Juni 2020 und dem 30. Juni 2021 eröffneten Wertpapierdepots Personen der Altersgruppe 18 bis 35 Jahre (davon über zwei Drittel jenen unter 30 Jahren). In absoluten Zahlen sind es 1,5 Millionen Menschen. Ins Auge springt, dass 48% der Depots von jungen Frauen eröffnet wurden und dass ihre Depots größer (durchschnittlich 150000 Rubel bzw. 1735 Euro) sind als die der Männer (130000 Rubel). Die Finanzaffinität der russischen Frauen ist damit einmal mehr bestätigt. In auffällig vielen Unternehmen stellen sie den Finanzvorstand. Man könnte es in Abwandlung des vom britischen Schauspieler Alec Guinness stammenden Satzes so formulieren: „Wer eine russische Frau einmal unterschätzt hat, wird das nie wieder tun.“