Lauter digitale Niederlagen
Japan als Land der Computer und Roboter? Ganz falsch ist dieses Bild nicht, aber sicherlich irreführend, wie sich während der Pandemie zeigte: Eine Barüberweisung an alle Bürger zog sich über viele Wochen hin, weil die Verwaltung sie manuell abwickelte. Krankenhäuser waren nicht auf Telemedizin und Schulen nicht auf Online-Unterricht vorbereitet. Die Covid-App funktionierte nicht, was aber erst nach Monaten auffiel. Daher kündigte Premierminister Yoshihide Suga zu seinem Amtsantritt die Gründung einer „Agentur für Digitalisierung“ an.
Gleich zwei Minister sollten das Projekt vorantreiben. Der Verwaltungsreformminister Taro Kono, der sich gerade um die Nachfolge von Suga als Partei- und Regierungschef bewirbt, sollte der Bürokratie ihre Fax- und Stempel-Besessenheit austreiben. Mit gemischtem Ergebnis: Für die meisten Verwaltungsvorgänge werden die Hanko oder Inkan genannten persönlichen Namensstempel abgeschafft. Aber 400 Petitionen für die weitere Fax-Nutzung bewiesen, dass viele Behörden im 20. Jahrhundert bleiben wollen.
Mehr vorzeigbaren Erfolg hatte der Minister für digitale Transformation, Takuya Hirai. Die „Agentur für Digitalisierung“ mit 600 Mitarbeitern nahm soeben ihre Arbeit auf. Der Hauptgrund für Japans „digitale Niederlage“, so der unverblümte Ausdruck von Hirai, sei die mangelnde Integration – jedes Ministerium und jede Stadt- und Gemeindeverwaltung verwendet eigene maßgeschneiderte IT-Systeme. Der schnelle Austausch von Daten und Dokumenten ist daher unmöglich. Doch ab 2023 sollen alle Verwaltungsvorgänge mit Hilfe einer 12-stelligen persönlichen Nummer digitalisiert werden. Das ehrgeizige Ziel will die Agentur erreichen, indem sie das IT-Budget für die Bürokratie fast komplett zentral verwaltet und für aufeinander abgestimmte Anschaffungen sorgt. Bisher verfügte jede Behörde über ein eigenes Budget und blieb daher abhängig von ihrem Systemanbieter.
Auch das zweite Erbe der kurzen Regierungszeit von Suga, der Anfang Oktober freiwillig sein Amt aufgibt, lässt sich als Reaktion auf eine technologische Niederlage deuten: Der Staat hat den weltweit größten Stiftungsfonds für Hochschulen aufgelegt. Das Startkapital von 4,5 Bill. Yen soll sich durch Zuwendungen von Universitäten auf 10 Bill. Yen (78 Mrd. Euro) noch mehr als verdoppeln. Zum Vergleich: Die Stiftung der Universität Harvard verfügt über 34 Mrd. Euro. Die Erträge aus dem Stiftungskapital sollen innovative Grundlagenforschung finanzieren und ihre kommerzielle Anwendung fördern.
Damit griff die Regierung einen Vorschlag von Neurowissenschaftler Kazuto Ataka auf. In seinem Bestseller „Neues Japan“ hatte der Chefstratege des Webportals Yahoo Japan kritisiert, Nippon bringe zu wenige kreative Forscher und innovative Unternehmer hervor. Starke Hierarchien stoppten die wenigen Japaner, die disruptive Veränderungen anstrebten. „Das heutige Japan kann nicht einmal die Wellen der technologischen und industriellen Innovation reiten, geschweige denn sie erzeugen“, schreibt Ataka. Nun soll der Stiftungsfonds die Kluft zwischen theoretischer Wissenschaft und praktischen Produkten überbrücken.
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Womit wir zu Japans dritter Niederlage auf digitalem Feld kämen: Die verschärfte Rivalität zwischen Japans einzigem Verbündetem USA und seinem wichtigsten Handelspartner China hat der Regierung in Tokio nämlich schmerzlich vor Augen geführt, wie wenig man auf die elektronische Kriegsführung vorbereitet ist. Dadurch fallen Bürokratie und Privatwirtschaft Cyberkriegern und Hackern leicht zum Opfer. Aber es fehlt nicht nur an einer starken Abwehr – Japan besitzt auch keine Angriffsmittel für den Krieg der Zukunft. Nun will das Kabinett bis Dezember eine Strategie für Cybersicherheit entwickeln. Der Wille zur Modernisierung dürfte sich daran messen lassen, ob Japan nach westlichem Vorbild ein Zentrum für Cybersicherheit gründen wird. Die Dringlichkeit nimmt jedenfalls zu: Denn die geplante Vereinheitlichung der staatlichen IT-Infrastruktur vergrößert ironischerweise den Schaden, den Hacker mit einem Angriff verursachen können.