Im BlickfeldAmbitionen im Werbegeschäft

Live-Streaming wird für Netflix zur riskanten Wette

Netflix will mit Live-Übertragungen die Werbeerlöse ankurbeln. Mit der strategischen Wende droht der Streaming-König jedoch sein Stammpublikum zu vergraulen.

Live-Streaming wird für Netflix zur riskanten Wette

Im Blickfeld

Live-Streaming wird für Netflix zur riskanten Wette

Der Streaming-König will mit Live-Übertragungen die Werbeerlöse ankurbeln. Mit dieser strategischen Wende droht das Unternehmen aber sein Stammpublikum zu vergraulen.

Von Alex Wehnert, New York

Netflix setzt auf harte Typen: Seit Anfang Januar sind die Wrestler der WWE auf der Plattform zu sehen. Die Live-Premiere der Showkampf-Sendung „Raw“, zuvor fast zwei Jahrzehnte lang auf dem Kabelsender USA Network ausgestrahlt, setzte der Streaming-König groß in Szene. US-Nutzer konnten sich in den Wochen zuvor schon kaum vor Trailern retten, beim Ring-Spektakel in Los Angeles ließen sich mit Rapper Travis Scott und Schauspielern wie Vanessa Hudgens und Ashton Kutcher zahlreiche US-Promis blicken. Als Teil der Show dabei war auch Dwayne „The Rock“ Johnson – der als einer der kommerziell erfolgreichsten Filmstars weltweit immer noch den Teilzeit-Wrestler gibt und im Verwaltungsrat der WWE-Mutter TKO Holdings sitzt.

Steigt in Teilzeit noch immer in den Ring: Dwayne „The Rock“ Johnson (rechts), hier mit seinem Cousin, dem WWE-Star Roman Reigns. Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com | Louis Grasse.

Die Ringer reihen sich dabei unter anderen Muskelprotzen ein: Am ersten Weihnachtsfeiertag strahlte Netflix mit den Duellen Baltimore Ravens gegen Houston Texans und Kansas City Chiefs gegen Pittsburgh Steelers bereits zwei Spiele der American-Football-Liga NFL aus und will diese Übertragungen nun zur Feiertagstradition machen. Bereits im November schalteten zu verschiedenen Zeitpunkten global insgesamt 108 Millionen Zuschauer beim Boxkampf des Youtubers Jake Paul gegen den ehemaligen Schwergewichtsweltmeister Mike Tyson herein, Netflix vermeldete in der Spitze ein Publikum von zeitgleich 65 Millionen.

Neue Events angekündigt

Mit dem Film- und Fernsehpreis Screen Actors Guild Awards und den Fußball-Weltmeisterschaften der Frauen 2027 und 2031 hat sich das Unternehmen bereits die Rechte an weiteren neuen, großen Live-Events gesichert. Die Konkurrenz hat das Segment schon länger für sich entdeckt, Apple TV und Amazon Prime Video übertragen bereits seit Jahren Fußballspiele. Dass Netflix seine Expansion ins Live-Geschäft seit dem vergangenen Jahr so stark vorantreibt, ist auf grundlegendere Veränderungen in den Abonnementmodellen des Streaming-Vorreiters zurückzuführen.

Denn Netflix führte im Herbst 2022 eine neue werbefinanzierte Variante ein. Zwar legte die Aboversion einen langsamen Start hin und dürfte nach Einschätzung des Managements 2025 noch kein vorrangiger Treiber der Erlöse werden, inzwischen seien aber zunehmend „grüne Triebe“ erkennbar. „Wir befinden uns auf gutem Weg, ein ausreichendes Maß an Werbeabo-Mitgliedern in allen verfügbaren Märkten zu erreichen“, schreibt Netflix in einem aktuellen Brief an die Aktionäre. Es sei 2025 „oberste Priorität“, das Angebot für Werbekunden zu verbessern, um die Erlöse „substanziell“ anzukurbeln. Im vierten Quartal zog die werbefinanzierte Variante in Märkten, in denen sie verfügbar war, mehr als 55% der Neukunden auf sich. Gegenüber dem Vorquartal wuchs die Nutzerzahl in dem Segment um 30%, im laufenden Jahr soll sich der Umsatz im Werbegeschäft verdoppeln.

Gewaltiges Abonnentenwachstum

Mit ihren 301,63 Millionen Abonnenten – von denen allein 18,91 Millionen und damit fast doppelt so viele wie an der Wall Street erwartet im Schlussquartal 2024 hinzukamen – gilt Netflix für Werbekunden bereits als äußerst attraktive Plattform. Durch die Übertragung von Live-Events sollen sich jedoch noch weitaus größere Chancen zur Produkt- und Anzeigeplatzierungen ergeben. Gerade die NFL und die WWE verfügen über eine enorm eingefleischte Fangemeinde.

Bei der „Raw“-Premiere Anfang Januar sahen 4,9 Millionen Menschen live zu, und Wrestling ist in den USA nach einem zwischenzeitlichen Abschwung wieder zum Familien-Ereignis geworden: Bei den Shows der WWE sitzen gemäß Umfragen wesentlich häufiger mehrere Mitglieder eines Haushalts zusammen vor dem Bildschirm als bei Ausstrahlungen von Spielen der Basketball-Liga NBA, der Baseball-Liga MLB oder der Eishockey-Liga NHL. Auf der Videoplattform Youtube ist der Schaukampf-Marktführer nach Abonnenten- und Clickzahlen erfolgreicher als jeder andere US-Sportkanal und damit auch in der Netflix-Zielaltersgruppe von 18 bis 34 Jahren besonders populär. Deshalb ließ sich der Streaming-Vorreiter die Übertragungsrechte für „Raw“ über zehn Jahre angeblich 5 Mrd. Dollar kosten.

Technische Probleme als Hemmnis

Doch die neue Fokussierung auf das Live-Geschäft wird für Netflix zur riskanten Wette. Dies wurde laut Analysten schon bei einer der ersten großen Übertragungen deutlich, dem Kampf zwischen Paul und Tyson. Denn das Live-Streaming ist technisch weit komplexer als Video-on-Demand-Übertragungen – und infolge eines gewaltigen Nutzerandrangs und hohen Internet-Traffic kam es bei der Ausstrahlung des Boxspektakels aus dem AT&T Stadium in Arlington, Texas, zu großflächigen Ausfällen und Lade-Schwierigkeiten. Die Frustration beim Publikum war groß – ebenso wie die Furcht vor ähnlichen Pannen bei den NFL-Spielen und der „Raw“-Premiere.

Letztlich gingen die nächsten Großevents weitgehend störungsfrei über die Bühne, doch der Analysedienst Agora warnt davor, dass auch nur geringe Latenzen in der Übertragung das Nutzererlebnis bei Livesport-Ereignissen erheblich einschränken. Stärker noch als bei Award-Shows wollten die Zuschauer in der Lage sein, Events wie Footballspiele genau gleichzeitig zu verfolgen und via Social Media darüber zu kommunizieren. Auf Streamingdiensten seien mehr Sendungen und Filme verfügbar als jemals zuvor, und Abonnenten seien aus diesem Teil der Plattformen einen reibungslosen Ablauf gewöhnt. Es bestehe nun „dringender Bedarf, die Streaming-Technologie auf den neuesten Stand zu bringen, um Nutzern eine stärker synchronisierte und fesselndere Erfahrung zu bieten.“

Voll auf die Zwölf: Die Übertragung des Boxkampfs zwischen Mike Tyson und Jake Paul war für Netflix-Nutzer von technischen Störungen geprägt. Foto: picture alliance / Anadolu | Tayfun Coskun.

Dies gilt umso mehr, als Netflix nach dem jüngsten Boomquartal erneut die Preise anhebt – auch die werbeunterstützte Variante wird 1 Dollar teurer und kostet künftig 7,99 Dollar pro Monat. Veränderungen in der Abonnementstruktur – für die Premium-Variante müssen Nutzer nun 24,99 Dollar pro Monat lockermachen – haben dem Streaming-Vorreiter bereits geholfen, die Umsatzrentabilität zu steigern: Die operative Marge lag im vierten Quartal bei 28,2%, im Vorjahr belief sie sich noch auf 16,9%.

Abkehr von Wachstumsfokus

Zugunsten der Profitabilität rückt das Unternehmen vom Fokus auf das Nutzerwachstum ab. Künftig will Netflix nicht mehr quartalsweise Abonnentenzahlen vorlegen. Dies ruft bei den Analysten von Barclays, die diese Kennziffer noch immer als wichtigste Orientierungsgröße für Investoren erachten, Sorgen wach. Für Netflix-Aktionäre droht nun zu spät ersichtlich zu werden, ab wann eine ruckelige Live-Streaming-Erfahrung Nutzer so weit frustriert, dass sie der Plattform verstärkt den Rücken kehren.