Mit der Brechstange
Es mag zuletzt ruhiger geworden sein um die Türkei, doch der Schein trügt. Zwar haben es Regierung und Notenbank mit konzertierten Aktionen einstweilen geschafft, die zeitweise hyperventilierenden Devisenhändler zu besänftigen. Der freie Fall der Lira ist jedenfalls vorerst gestoppt: Nach mitunter irrem Auf und Ab hat sich der Kurs seit Jahresbeginn an der Schwelle von 14 Lira zum Dollar eingependelt. Doch Alleinherrscher Recep Tayyip Erdogan wird seine Wette, mit Niedrigzinsen und Währungsschwäche die Wirtschaft um jeden Preis heiß laufen zu lassen, nicht gewinnen. Denn die Probleme, die der Lirakrise zugrunde liegen, sind nicht ansatzweise gelöst und die Einsätze nicht etwa gesunken, sondern gestiegen. Nicht wenige Analysten wähnen die Türkei im perfekten Sturm – aus guten Gründen.
Das Hauptproblem: Regierung und Notenbank tun zwar endlich etwas – aber lediglich gegen die Symptome der Krise, nicht gegen deren Ursachen. Das Paradebeispiel ist die kurz vor Weihnachten beschlossene Einlagengarantie. Mit ihr sichert der Staat die Sparer gegen Währungsrisiken ab, indem er für etwaige Wechselkursverluste aufkommt. Das hat die Flucht in Hartwährungen wie Dollar und Gold eingedämmt und die Lira gestützt, nicht zuletzt, weil die Notenbank offenbar mit versteckten Interventionen am Devisenmarkt nachhalf. Doch das Grundübel ist nicht aus der Welt: Der Leitzins ist nach mehreren Abwärtsschritten auf 14% viel zu niedrig, weil die Inflation laut offiziellen Zahlen 36% überschritten hat. Eine Notfallzinserhöhung wie in früheren Krisen-Episoden ist anlässlich des Zinsentscheids nächsten Donnerstag überfällig, jedoch unwahrscheinlich.
Eine günstige Lira macht türkische Waren auf den Weltmärkten attraktiver. Der zu beobachtende Exportboom bringt Devisen ins Land und kann die chronische Importabhängigkeit bei Rohstoffen, Energie und anderen Gütern sowie Kapital aufwiegen. Dieses Kalkül Erdogans ist – anders als seine religiös verklärte Sicht auf Zinsen und Inflation – ökonomisch plausibel. In der Praxis erweisen sich die Erdoganomics allerdings als Wirtschafts- und Währungspolitik mit der Brechstange, die Millionen Menschen und Tausende Unternehmen in Existenznöte stürzt. Beispielsweise mussten Verleger die Produktion von Büchern einstellen, weil die Einfuhr von Papier zu teuer geworden ist.
Der billigend in Kauf genommene Teufelskreis aus Abwertung, Inflation und Kaufkraftverlusten zieht zwei verbliebene Trümpfe der Türkei, das Bankensystem und die Staatsfinanzen, in Mitleidenschaft. Eine gefürchtete Lohn-Preis-Spirale ist in Gang gekommen: Die Regierung hat den Mindestlohn, Gehälter im öffentlichen Dienst und Renten sehr stark angehoben. Die Löhne in der Privatwirtschaft ziehen mit Aufschlägen von 50% und mehr mit. Das heizt die Inflation absehbar noch stärker an.
Der selbsternannte Zinsfeind Erdogan lässt keinerlei Bereitschaft zum Sinneswandel erkennen. An seinem Willen führt seit einer umfassenden, verhängnisvollen Verfassungsreform, die im April 2017 in einem von Manipulationsvorwürfen umwitterten Referendum besiegelt wurde, kein Weg vorbei. Das gilt längst nicht nur für die Geldpolitik, aber hier zeigen sich die Folgen des auf Erdogan zugeschnittenen Präsidialsystems besonders eklatant. Die Notenbank ist de facto nicht mehr unabhängig, weil der Staatschef nach Belieben Personal austauschen und durch Gefolgsleute ersetzen kann. Dies hat den Verfall der Währung, der schon Jahre vor dem Verfassungsreferendum eingesetzt und nun dramatische Züge angenommen hat, entscheidend begünstigt. Deutlicher denn je zeigt sich: Je stärker Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung in der Türkei beschnitten worden sind, umso tiefer sind der Außenwert der Lira und die Kreditwürdigkeit des Landes abgesackt.
Und Erdogan? Hetzt gegen eine angebliche „Zinslobby“, stilisiert sich zum Anführer in einem vorgeblichen „wirtschaftlichen Unabhängigkeitskrieg“, schießt gegen vermeintliche Lira-Manipulatoren. Das sind Ablenkungsmanöver, die – wie Umfragen zu Erdogans Popularität und zum Verbrauchervertrauen nahelegen – große Teile der Bevölkerung dem Staatschef nicht abkaufen. Aus dieser Abwärtsspirale wird das Land nur mit einem klaren Sieg der Opposition bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen herausfinden. Mit ihrer eindringlichen Kritik an Erdogans geldpolitischer Geisterfahrt lässt sie auf eine Rückkehr vernunftgeleiteter Wirtschafts- und Währungspolitik hoffen. Doch die wird, sollte die Regierung die für Juni 2023 terminierten Wahlen nicht vorziehen, mindestens anderthalb Jahre auf sich warten lassen. Bis dahin stehen der Türkei und der Lira stürmische Zeiten ins Haus.(Börsen-Zeitung, 14.1.2022)