Mit Varian in eine neue Dimension
Von Michael Flämig, München
„Verzichten Sie auf große Akquisitionen“: Dieser Satz ist vielerorten der Gruß des Investors, wenn er den Vorstandsvorsitzenden trifft. Oliver Bäte beispielsweise kann ein Lied davon singen. Auf der Allianz-Hauptversammlung Anfang Mai bekam er diese Aufforderung diesmal vom Sprecher der Fondsgesellschaft Union Investment zu hören. Doch es geht auch anders, und zwar selbst bei Aktiengesellschaften mit konservativ anmutendem Geschäftsmodell.
Bätes CEO-Kollege Bernd Montag beispielsweise kann sich vor Lob über einen Mega-Deal kaum retten: die Akquisition von Varian. Und dies, obwohl Siemens Healthineers mit umgerechnet 13,9 Mrd. Euro so viel Geld ausgegeben hat, wie es die Siemens AG zuvor in ihrer 174-jährigen Geschichte nie tat. Bei Bekanntgabe des Zukaufs im August 2020 sprengten die Multiples zudem die gewohnten Siemens-Dimensionen. Es wurde das Fünffache des erwarteten Umsatzes 2021 und das 24-Fache des operativen Gewinns (Ebitda) geboten.
Die Investoren zogen zwar anfangs die Augenbrauen hoch und den Aktienkurs runter, die Notierung hinkt immer noch dem Dax hinterher. Aber obwohl der Medizintechnikspezialist das Kapital in zwei Schritten um 12,8% erhöht hat, ist der Kurs seit Anfang August um 7% auf 47,00 Euro gestiegen. Im Februar wurde mit 49,37 Euro ein Rekordschlusskurs erreicht. Die Analysten trauen dem Konzern noch mehr zu. Rund um das Closing des Varian-Kaufs am 15. April setzten beispielsweise Deutsche Bank und HBCS den Wert auf „Buy“ hoch. Ihr gleichlautendes Kursziel: 56 Euro.
Die Zuversicht speist sich aus der strategischen Logik. Die Idee: Diagnose und Therapie von Krebserkrankungen aus einer Hand anzubieten. Die Lokalisierung von Tumoren ist die Domäne von Healthineers mit Computertomografen & Co., während Varian als nun vierte Healthineers-Sparte die Strahlentherapie-Geräte beisteuert. Anfangs eröffnet sich das Duo neue Vertriebschancen, perspektivisch vielleicht sogar die Schaffung eines Allround-Geräts. Das Fazit von Siemens-Healthineers-Chef Montag: „Mit Varian haben wir unser Portfolio in angrenzende Wachstumsmärkte ausgeweitet.“
Der Kauf ist allerdings auch eine Art Kapitulation, denn die Deutschen konnten dem Konkurrenten nie das Wasser reichen und mussten 2011 ihr Segment konventionelle Strahlentherapie einstampfen. Die 2017 folgenden Verhandlungen über eine Fusion mit Varian noch vor der Healthineers-Börsennotiz 2018 scheiterten an Einwänden der Amerikaner.
Dementsprechend geht Varian nun selbstbewusst durch die Healthineers-Tür. Die Berenberg-Analysten schätzen den Strahlentherapie-Marktanteil auf 58%. Varian dirigiert gut 8700 installierte Geräte und bringt rund 11000 Mitarbeiter mit (Healthineers: 55000). Der Umsatz, der im vergangenen Jahr (bereinigt um Zukäufe) wegen der Pandemie um 4% zurückging, beträgt 3,2 Mrd. Dollar. Healthineers meldete zuletzt stagnierende Erlöse in Höhe von 14,5 Mrd. Euro. Die bereinigte operative Varian-Rendite sank von 16,8% auf 15,1%, landete aber trotzdem auf dem ebenfalls niedrigeren Healthineers-Niveau (15,4%). Früher hatte Varian schon rund 18% erreicht.
Healthineers wird den Zukauf erstmals im dritten Quartal konsolidieren. Für die zweite Geschäftsjahreshälfte (30. September) rechnet Finanzvorstand Jochen Schmitz für Varian mit einer bereinigten Ebit-Marge von 12% bis 14% und einem Umsatz von 1,2 bis 1,4 Mrd. Euro. Er warnt jedoch vor eventuellen Korrekturen: Varian buchte den Umsatz bisher, wenn die Geräte die Fabrik verließen. Healthineers tut dies erst, wenn der Kunde die Lieferung abgenommen hat.
Hohe Verschuldung
Einer Meldung an die US-Börsenaufsicht SEC zufolge hat Varian in den Verkaufsverhandlungen sehr präzise geschäftliche Ziele vorgelegt: Im Jahr 2022 eine bereinigte operative Rendite von 16,8% bei 3,9 Mrd. Dollar Umsatz, 2025 eine Rendite von 22,2% und 2030 eine Marge von 29% (siehe Grafik). Der Vorstand hat diesen spektakulären Anstieg wohl nur errechnen können, indem er einen speziellen Taschenrechner für Firmenverkäufer nutzte. Aber gültig bleibt: Die Rendite soll steigen.
Synergien sorgen zusätzlich für Rückenwind. Schmitz erwartet von 2025 an 300 Mill. Euro pro anno. Die Hälfte soll aus Wachstum durch eine regionale Ausdehnung des Vertriebs, Cross Selling und mehr Service stammen. Die Kostensynergien speisen sich aus Back-Office-Einsparungen, dem Ende der Varian-Notierung und gemeinsamen Einkauf.
Der hohe Kaufpreis für Varian von 16,4 Mrd. Dollar plus rund 0,7 Mrd. Dollar Nebenkosten verändert das Healthineers-Zahlenwerk fundamental. In der Bilanz zeigt sich dies in der Nettoverschuldung inklusive Pensionen: Im vergangenen Oktober lag sie bei 2,5 Mrd. Euro, nun sind es rund 14,4 Mrd. Euro. Dies ist das 4,2-Fache des operativen Gewinns (Ebitda). 65% des Kaufpreises sind fremdfinanziert worden. Aber auch die Gewinn-und-Verlust-Rechnung wird durcheinandergewirbelt. Dies lässt sich nicht an den Profitabilitätsprognosen ablesen, weil der Konzern dort neuerdings Transaktionseffekte herausrechnet. So soll das bereinigte unverwässerte Ergebnis pro Aktie stark steigen. Analysten erwarten aber teils, dass der berichtete Wert ausgehend von 1,41 Euro sinkt.
Der Grund: Die Integrations- und Transaktionskosten schätzt Healthineers in der zweiten Geschäftsjahreshälfte auf 200 bis 300 Mill. Euro (davon rund 90 Mill. Euro aus Devisenabsicherung). Die planmäßige Abschreibung von immateriellen Vermögenswerten aus der Kaufpreisallokation (PPA) soll 500 bis 700 Mill. Euro betragen. Für den 10-Mrd.-Dollar-Kredit zahlt Healthineers 25 bis 30 Mill. Euro Zinsen jährlich.
Der Healthineers-Vorstand wird die detaillierten Pläne für die Varian-Integration auf einem Kapitalmarkttag im Herbst vorstellen. Mehrheitsaktionär Siemens setzt darauf, dass die Story aufgeht. Die Beteiligung bleibe bei 75%, während Varian integriert werde, berichtet Ben Uglow von Morgan Stanley aus einer Online-Roadshow der Siemens AG.