Nachhaltig digital
Journalisten sind eigenwillige Menschen und haben Spaß an eigenwilligen Spielen. Eines davon heißt „Bullshit Bingo“ – und geht so: Wenn ein Vorstand bei Pressekonferenzen oder Hauptversammlungen vor ein Mikrofon tritt, notieren alle Mitspieler auf der Pressebank auf ihren Notizblöcken in Reihen und Spalten jene Worthülsen, die sie auf der Beliebtheitsskala ganz oben vermuten – nichtssagende Verlautbarungen wie „Das ist eine Win-Win-Situation“ oder „Wir befinden uns auf dem driver’s seat“. Jede Floskel, die fällt, darf auf dem Spielzettel ausgekreuzt werden. Und der Journalist, der schließlich waagrecht, senkrecht oder diagonal fünf Kreuze in einer Reihe vor sich sieht, darf aufspringen und „Bingo“ rufen.
Das Spiel – die journalistische Revanche für Phrasendrescherei von CEOs und CFOs – ist zwar mangels Präsenzveranstaltungen aus der Mode gekommen. Die Plattitüden aber leider nicht. „Wir konzentrieren uns auf unsere Stärken.“ „Wir befinden uns in ständiger Transformation.“ „Das zahlt alles auf unser Geschäftsmodell ein.“ Und 2021 besonders beliebt: „Das ist fest in unserer DNA verankert.“ Gemeinplätze, mit denen Manager jedes Publikum in Rekordtempo ins Wachkoma quatschen können.
Wenn Diplomaten anderer Meinung sind als ihre Gesprächspartner, sie aber nicht vor den Kopf stoßen wollen, lautet eine beliebte Floskel: „Ich höre, was Sie sagen.“ Klingt positiv, ist aber nur Taktik, um nicht lügen zu müssen. In Ausblicken von Vorständen auf 2022 ist aktuell ein ähnliches Muster zu erkennen. Um nicht lügen zu müssen, was Haftungsrisiken nach sich ziehen würde, und doch positiv zu klingen, behelfen sich viele Führungskräfte von Unternehmen, bei denen es gerade nicht so rund läuft, mit Sätzen wie „Wir sind auf gutem Weg“ – im Ton freundlich, in der Sache nichtssagend. Diese sprachliche Vernebelung ist zwar lästig. Aber alle haben sich irgendwie daran gewöhnt. Daran, dass es selbst bei notleidenden Firmen keine Probleme gibt, sondern nur „Herausforderungen“. Daran, dass es offiziell nie Zoff im Vorstand gibt, sondern allenfalls „intensive und stets an der Sache orientierte Diskussionen“.
Im nun zu Ende gehenden Jahr haben einige den Bogen allerdings überspannt. So wirkt der inflationäre Verweis auf die Corona-Pandemie als Begründung für unerwartet miese Umsatzzahlen oft kontraproduktiv. Na klar, bei Fluggesellschaften ist das nachvollziehbar. Aber nicht zwangsläufig bei Softwareschmieden.
Auf dünne Dielen begeben sich zudem all jene Unternehmen und Banken, die sich zu sehr auf die eigene Brust klopfen, wenn sie erklären, warum sie Lockdowns recht unbeschadet überstanden haben. Sich selbst dafür hochleben zu lassen, dass die Kundschaft zahlungsfähig und die Wertberichtigungen überschaubar geblieben sind, vermittelt den Eindruck, die erheblichen Hilfen der öffentlichen Hand würden wohlfeil ignoriert.
Ganz und gar abzuraten ist Unternehmen und Banken, ein flammendes Bekenntnis zur Nachhaltigkeit abzugeben, sofern sie daran lediglich Belanglosigkeiten anschließen. Dass ein Unternehmen Fahrräder für den Vorstand anschafft, ist noch lange kein Nachweis nachhaltiger Unternehmenskultur. Oder dass ein Finanzdienstleister mit Solarstrom heizt, macht ihn noch nicht zu netto null – zumal, wenn er sein Geld mit dem Handel schadstoffintensiver Kryptowährungen verdient. Gerade hier ist der Grat zwischen Selbstlob und Lächerlichkeit schmal.
Vergleichbares gilt für die Digitalisierung. Zuletzt applaudierten sich viele Vorstände selbst für Maßnahmen, die bei näherer Betrachtung bestenfalls als Automatisierung oder Rationalisierung ihrer Produktionsprozesse durchgehen. Vorsicht also: Wer von digitaler Umstellung fabuliert, nur weil ein paar Faxgeräte entsorgt werden, wird schnell belächelt.
Der Ratschlag an Vorstandsmitglieder und ihre Kommunikationschefs für 2022 lautet daher: Weniger ist mehr. Mit eigenen „Quantensprüngen“ bei der digitalen und nachhaltigen Transformation sollte nur prahlen, wer dies belastbar dokumentieren kann.
Und beim Blick auf das – für viele Branchen absehbar schwierige – neue Jahr ist ebenfalls etwas mehr Aufrichtigkeit geboten. Sich mit der Plattitüde herauszureden, man sei „verhalten optimistisch“, ist nicht immer die beste Option. Da sollte man sich eher mal ein Vorbild nehmen am früheren obersten Bankenaufseher Jochen Sanio. Der formulierte einst zur Lage der Banken am Ende eines durchwachsenen Jahres: „War doch eigentlich kein so schlechtes Jahr. Zumindest verglichen mit dem nun folgenden.“