Chinesische Konjunktur

Nashörner im Anmarsch

Chinas Staatsführung verordnet Konjunktur­optimismus. Von durchaus sichtbaren Gefahren für die Wirtschaft will man in diesem Jahr vor allem aus politischen Gründen nichts wissen. 

Nashörner im Anmarsch

Nach offizieller Lesart gibt es jede Menge gute Gründe, die Perspektiven der weltweit zweitgrößten Volkswirtschaft im Jahr 2022 optimistisch einzuschätzen: Chinas Industrie hat den pandemischen Schock längst überwunden. Die Exportwirtschaft eilt von einem Wachstumsrekord zum anderen. Die heftige Erzeugerpreisinflation wird vom Staat gebändigt, der Verbraucherpreisanstieg ist – anders als im Westen – moderat. Und selbst eine Handvoll maroder Immobilienentwickler wie Evergrande werden den kerngesunden Immobilienmarkt kaum ins Wanken bringen.

Die Regierung hat reichlich Budgetspielräume für fiskalische Stimuli, die Zentralbank steht mit geldpolitischen Lockerungsgesten Gewehr bei Fuß, und die just eröffneten Olympischen Winterspiele in Peking lassen einen Ruck durchs Land gehen, der die Verbraucherstimmung hebt und ergo den Konsum anregt. Was kann angesichts dieser geballten Ladung an beruhigenden Botschaften schon schiefgehen?

Wenn nicht Unvorhergesehenes und Katastrophales – ein sogenanntes „Black Swan Event“ – eintritt, darf man davon ausgehen, dass China trotz jüngster Unterperformance der Konjunktur wieder zur Normalform zurückfindet und die Weltwirtschaft mit anschiebt. Statt sich mit schwarzen Schwänen herumzuschlagen, gegen die man sowieso nichts machen kann, beschäftigen sich die Ökonomen lieber mit einer anderen Anlehnung an die Tierwelt, nämlich dem „Grey Rhino“. Dahinter steht das Bild eines mit einem riesigen Horn versehenen Ungetüms, das man schon von weitem daherkommen sieht und das einen zum Handeln zwingt. Es geht mit anderen Worten um volks- oder betriebswirtschaftliche Risiken, die nicht aus heiterem Himmel hereinbrechen, sondern sich mit einigen Warnzeichen ankündigen, auf die man reagieren kann, wenn man sie ernst nimmt.

Anfang 2019 hat niemand Geringeres als Chinas Staatspräsident Xi Jinping in einer vielbeachteten Rede an die Top-Riege der Parteigenossen plakativ vor schwarzen Schwänen und viel mehr noch vor grauen Nashörnern gewarnt. Unter dem Eindruck des Handelsstreits mit den USA und verschuldungsbedingter Finanzstabilitätsgefahren galt es für das wirtschaftlich erfolgsverwöhnte China, nicht in Lethargie zu verfallen und Risiken zu entschärfen. Mit dem Abstand von drei Jahren sieht man die Parteiführung nun eine ganz andere Linie einschlagen.

Trotz der Konjunktureintrübung und einer Reihe schwieriger Belastungsproben ist bedingungsloser Optimismus für 2022 angesagt. In den Staatsmedien finden nur Wirtschaftsberichte und Analysen Eingang, die ein solides und anziehendes Wirtschaftswachstum vorwegnehmen, der Börse Aufwind prophezeien und die Probleme am Immobilienmarkt entweder wegleugnen oder gar nicht erst erwähnen. Was wiederum den vor allem wegen Chinas rigider Nulltoleranzpolitik in Sachen Corona arg angegriffenen Konsum und Dienstleistungssektor angeht, scheint die positive Wende greifbar nahe zu sein.

Aus Sicht der Pekinger Staatsführung ist 2022 ein Jahr, in dem aus politischen Gründen nichts schiefgehen darf. Die Olympischen Winterspiele als internationales Prestigeprojekt schlechthin sind das eine, der für Oktober anstehende große Parteikongress, auf dem die Weichenstellung für die nächste fünfjährige Regierungsperiode erfolgt, das andere. Man darf fest davon ausgehen, dass Xi, dessen vorgesehene Amtszeit dann eigentlich abläuft, einen neuen Führungsmodus durchsetzen wird, der ihm erneut fünf Jahre an der Macht oder gar die Krönung zum Dauerherrscher beschert. Beste Rechtfertigung dafür ist eine makellose Bilanz nicht zuletzt auf wirtschaftspolitischer Ebene.

China hat sich im vergangenen Jahr mit Bedacht vor fiskalischen und geldpolitischen Stimuli zurückgehalten. Aufgrund der Basis­effekte im Abgleich mit dem Coronaschockjahr 2020 war ein ansehnliches Wachstum von rund 8% von vornherein gesichert. So hat man eine Konjunktureintrübung bewusst in Kauf genommen, um im neuen Jahr, in dem es politisch um die Wurst geht, Stimulus-Reserven zu mobilisieren und für einen Aufschwung sorgen. Das Kalkül könnte aufgehen, aber die Risiken wachsen. Der Exportrausch beginnt abzuflachen, die finanziellen Probleme im Immobiliensektor lassen sich immer schwerer verbergen, das Festhalten an der Corona-Nulltoleranz gefährdet Lieferketten und lässt den Konsum trotz Olympia weiter bröckeln. Die Nashörner kommen näher, aber in Peking mag man es diesmal nicht wahrhaben.

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