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Putin und die Russen: pragmatisch und berechnend

In der Erklärung der russischen Mentalität greifen die Russen von Putin abwärts zu einem alten Narrativ. Es stimmt nur zum Teil, wie zwei jüngste Beispiele – einmal negativ und einmal positiv – zeigen.

Putin und die Russen: pragmatisch und berechnend

Es ist nicht so, dass der US-Talkmaster Tucker Carlson in seinen Interviews mit den russischen Tonangebern nichts Erhellendes hervorbringt. Und dass es nur Propaganda sei, ist eine verkürzte Wahrnehmung. Aber was die Interviewten eben auch verbreiten, sind platte Stereotype. Putin habe sich gegen die globale progressive Agenda gewehrt, sagte dieser Tage der traditionalistische Philosoph Alexander Dugin zu Carlson. Daher komme der westliche Hass auf Putin. Die Agenda beschreibt Dugin als neuen Liberalismus, in dem die Macht der Mehrheit als Totalitarismus gelte und sich die Mehrheit daher Minderheiten unterwerfen müsse. Putin selbst hatte im Februar gegenüber Carlson die russischen Werte so erklärt: Russen würden mehr „an das Ewige, an moralische und ethische Werte denken“, während „die westliche Kultur pragmatisch ist“.

Es ist das dominante Narrativ in Russland. Vereinfacht gesagt: die freigebige, gottesfürchtige russische Seele gegenüber dem pragmatischen, ja berechnenden Westen. Man kann das Narrativ nicht ignorieren. Aber man muss es relativieren.

Etwa mit der omnipräsenten Korruption in Russland, die berechnenden und nicht moralischen Motiven folgt. Just vor einer Woche teilte die Staatsanwaltschaft mit, dass Vize-Verteidigungsminister Timur Iwanow, verantwortlich für den Bau militärischer Einrichtungen, wegen Korruptionsvorwürfen festgenommen worden ist. Von Familienurlauben in Saint-Tropez, wo Villen für 150.000 Euro gemietet wurden, war die Rede. Von einem Landhaus für sechs Millionen und einem Adelshaus zum selben Preis in Moskau. Beobachtern zufolge soll die Korruption, in Russland ein Kavaliersdelikt, nicht der Grund für die Festnahme sein, sondern ein Machtkampf zwischen Geheimdienst und Militärs. Dennoch: Mit der von Putin propagierten Moral geht das Leben seines Establishments nicht zusammen.

Pragmatismus als Bindeglied

Pragmatismus und Berechnung gibt es in Russland auch außerhalb der Korruption. Etwa beim Immobilienkauf im Ausland. Weil Russen aufgrund von Krieg und Sanktionen mit ihrem Geld nicht mehr dorthin können, wohin sie wollen – in erster Linie nach Europa –, suchen sie sich andere Destinationen. Weil aber inzwischen aufgrund angedrohter US-Sekundärsanktionen auch die zwischenzeitlich so attraktiven Staaten wie die Türkei restriktiver geworden sind, legen sich die Russen Zweitimmobilien vermehrt in Ostasien – allen voran Thailand – zu.

Russen sind oft verdammt pragmatisch und berechnend. Wenn wir von der Korruption absehen, vielleicht einer der Ansatzpunkte, wo man sich nach dem Krieg wieder treffen könnte, zumal in Russlands Geschichte Westeuropa der Orientierungspunkt war, zu dem man sich hinentwickeln wollte. Und dieser Drang ist nicht weg, meinte der Dekan der Wirtschaftsfakultät der Moskauer Staatlichen Universität (MGU), Alexander Ausan, vor einiger Zeit. Man werde nach dem jetzigen Intermezzo dorthin zurückkehren, wo man jüngst unterbrochen worden sei.

Notiert in Moskau

Pragmatisch und berechnend

Von Eduard Steiner
BZ+
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