Schanghai

Rationale Patrioten verzweifelt gesucht

Der Mord am japanischen Ex-Premierminister Shinzo Abe hat die Weltgemeinde erschüttert, aber Chinas radikalpatriotische Netzgemeinde in Wallung gebracht.

Rationale Patrioten verzweifelt gesucht

Spätestens seit dem Sturm auf das US-Kapitol in Washington vom 6. Januar 2021 weiß man, dass die politische Kultur eines Landes immer dann besonders leidet, wenn selbst ernannte Patrioten zur Tat schreiten, um ihrer inbrünstigen Liebe zur Nation mit denen ihnen zur Verfügung stehenden geistigen und körperlichen Mitteln Ausdruck zu verleihen. Der vom damaligen US-Wahlverlierer Donald Trump als Überfallkommando zusammengetrommelte Mob hat nicht nur wegen des einzigartigen Angriffs auf Amerikas demokratische Institutionen, sondern auch wegen der Lächerlichkeit in der Garderoben- und Wortwahl – von den „Proud Boys“ bis zum Büffelhornmütze tragenden „QAnon-Schamanen“ – Geschichte geschrieben.

In Chinas Staatsmedien weiß man bis heute nicht so recht, wie man mit dem derzeit durch einen US-Kongressausschuss aufgearbeiteten und dem Fernsehpublikum als Fortsetzungs-Detektivroman dargebotenen Sturm aufs Kapitol umgehen soll. Auf der einen Seite fällt es natürlich nicht schwer, Hohn und Spott über Amerikas „kaputte Scheindemokratie“ und politische Verwahrlosung auszugießen und den 6. Januar als ein „Das-habt-ihr-nun-davon-Event“ zu feiern. Auf der anderen Seite aber scheut sich der kontrollwütige Pekinger Führungsapparat grundsätzlich, politische Proteste gutzuheißen.

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Schwierig gestaltet sich für die Partei die Aufgabe der Kultivierung nationalistischer Gefühle und patriotischer Aufwallungen bei wohldosierter Zugabe von Anfeindungen gegenüber der Vielzahl von Ländern, mit denen China historische Reibereien oder aktuelle politische Konflikte ausficht. Angesichts einer weitgehenden Kontrolle über Meinungsäußerungen in sozialen Netzwerken und des ex­trem durchsetzungsfähigen Zensurapparats hat die Regierung zahlreiche Möglichkeiten, bei aufregenden Weltereignissen den Dialog in ihrem Sinne zu steuern. Wer sich als Patriot outet, darf sich so ziemlich alles an hasserfüllten Parolen erlauben. Das gilt dann gewissermaßen als Beleg für großzügige Meinungsfreiheit im Lande – sie wollen doch nur ein bisschen spielen, die ungestümen Racker und jungen Nationalisten. Kritische und besonnene Stimmen, für die aggressiver Nationalismus nicht „the Chinese way“ ist und sich diesbezüglich für ihr Land schämen, werden hingegen vom Zensurnetz diskret abgefangen.

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Der Mord am japanischen Ex-Premierminister Shinzo Abe hat die Weltgemeinde erschüttert, aber Chinas radikalpatriotische Netzgemeinde in Wallung gebracht. Sie jubelten über „die Erledigung eines Feindes“. Als am Nachmittag der Tod des wohl wichtigsten Politikers in der japanischen Nachkriegsgeschichte bekannt wurde, schwoll die Kakophonie weiter an. Die Zahl der den Mord aktiv beklatschenden Kommentare ging in die Dutzende von Millionen.

Chinas bekanntester politischer Kommentator und früherer Chefredakteur der auch auf Englisch erscheinenden Parteizeitung „Global Times“, Hu Xijin, hat auf seinem Twitterkanal lobenswerte Anstrengungen unternommen, den patriotischen Furor zurückzudrängen, Abe Respekt zu bekunden und auf die Komplexität der chinesisch-japanischen Beziehungen hinzuweisen. Hinzu kam der vielsagende Aufruf, dass sich gute Patrioten stets rational verhalten sollten. Genutzt hat es nicht viel. Weder findet sich ein schlechtes Gewissen noch die Bereitschaft, sich der Komplexität der Beziehungen zum Nachbarland zu widmen.

Abbitte leisten musste hingegen die Japan-Reporterin des chinesischen Nachrichtenportals The­paper.cn. Sie hatte während ihrer Videoreportage die Abscheulichkeit des Verbrechens beklagt und dabei selbst zu schluchzen begonnen. Der Gefühlsausbruch der Journalistin Zeng Ying hat seinerseits Wutausbrüche der Nationalisten ausgelöst. Sie wurde prompt in die Hetzjagd miteinbezogen. Zeng hat sich im Netz für ihr „unprofessionelles Verhalten“, sprich persönliche Emotionen im beruflichen Rahmen, entschuldigen müssen.

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