Rote Renaissance in Lateinamerika
Von Andreas Fink, Buenos Aires
Als Gabriel Boric am 19. Dezember die Stichwahl um die Präsidentschaft in Chile gewann, reagierten die Märkte reflexartig: Die Aktienkurse in Santiago brachen ebenso deutlich ein wie der Wert des chilenischen Peso. Der neue Präsident ist erst 35, und er obsiegte an der Spitze einer Linkskoalition unter Beteiligung der Kommunistischen Partei, darum waren solche Marktreaktionen zu erwarten. Was überrascht: Seither sind sowohl die Aktienkurse als auch die Währung gestiegen. Der wichtigste Aktienindex Ipsa 35 liegt heute um etwa 5,5% über dem Wert nach dem Wahltag. Auch der Peso hat sich ähnlich erholt.
Womöglich signalisiert diese Marktreaktion den Beginn eines Umdenkens. Womöglich reift da die Einsicht, dass Chiles Entwicklungsmodell der letzten drei Jahrzehnte nach erheblichen Erfolgen saturiert ist. Dass eine breitere Wohlstandsverteilung dem 18-Millionen-Einwohner-Land zuträglicher sein kann als das ultraliberale Modell, das seit dem Aufstand im Oktober 2019 die Chilenen nicht mehr überzeugt.
Wie in Chile konnten auch andere liberale Regierungen Lateinamerikas ihren verarmenden Bevölkerungen die Vorteile der Marktwirtschaft nicht mehr nahebringen – auch weil sie während der Pandemie versagten. Die Folge: Auf dem Subkontinent hat eine rote Renaissance eingesetzt. Ende 2019 kehrten Argentiniens Peronisten zurück, in Peru und Bolivien gewannen linke Populisten. Ende 2022 könnte fast der gesamte Kontinent rot regiert werden, sollten sich die Kolumbianer im Mai für den Ex-Guerillero Gustavo Petro entscheiden und die Brasilianer im Oktober Luiz Inácio Lula da Silva ins Amt zurückwählen, worauf die Meinungsumfragen derzeit deuten.
Neuer Rohstoffboom naht
Aber wird der heute 76-jährige Lula erneut 30 bis 40 Millionen Landsleute aus der Armut holen können wie in seinen ersten Amtsjahren zwischen 2003 und 2010? Damals, in der goldenen ersten Dekade dieses Jahrhunderts, konnte ganz Lateinamerika das Elend deutlich reduzieren. Chinas enormer Rohstoffhunger half allen Regierungen dabei, Linken wie Liberalen. Als die Rohstoffpreise in der zweiten Dekade sanken, ging ein Großteil der Errungenschaften verloren. Und sämtliche Konsolidierungsversuche misslangen populistischen linken ebenso wie liberalen Regierungen. Der Kontinent scheiterte erneut an seiner Abhängigkeit von Rohstoffexporten: 37% aller Einkünfte bezieht die Region daraus, dieser Anteil ist deutlich höher als in Afrika oder Asien. Und er leidet an all den alten Übeln, die im goldenen Jahrzehnt nicht abgestellt oder gar noch verschlimmert wurden: Bürokratie, Inkompetenz, Ineffizienz, Straflosigkeit, Gewalt, Korruption – und enorme Unterschiede zwischen der armen Mehrheit und reichen Eliten.
Nun steht Lateinamerika erneut am Anfang eines Rohstoffzyklus. Der weltweite Weg zur Reduktion von CO2-Emissionen wird einen Elektro-Boom auslösen, nicht nur in der Automobilindustrie. Die Anden beherbergen die rentabelsten Lithium-Vorkommen sowie die meisten jener Edelmetalle, die eine Elektrowelt braucht. Brasiliens und Argentiniens Landwirtschaftsflächen werden Nahrung für Milliarden Menschen erzeugen, und die ständigen Stürme im Südatlantik und Südpazifik sowie die Wüstensonne der Atacama können zu enormen Energiequellen für die Herstellung von Wasserstoff werden.
Südamerika steht also wieder am Scheideweg – wie schon so oft, seitdem die Spanier im 16. Jahrhundert begannen, den Cerro Rico, einen silber- und zinkreichen Berg in Bolivien, auszubeuten. Werden seine Reichtümer wieder nur exportiert? Oder gelingt dem Kontinent endlich eine nachhaltigere Entwicklung? Soll diese bezahlt werden mit den Erlösen des Booms? Oder werden gar wieder riesige Versprechen gemacht wie jene, die Argentiniens Peronisten seit Jahrzehnten niemals einlösten? Auf dem Kontinent gibt es eine Orientierungshilfe: Mit einem rechtsstaatlichen und stets demokratischen Kurs vermochte es Uruguays linke „breite Front“ (unter Beteiligung der Kommunistischen Partei!), zwischen 2005 und 2019 sämtliche Indikatoren zu verbessern und nicht von der Rohstoffflaute eingeholt zu werden.
In Montevideo liegt die Messlatte für Chiles Gabriel Boric. In seinen Jahren als Studentenführer hat er offen die totalitären Praktiken in Venezuela und Nicaragua kritisiert. Das war wohl einer der Gründe dafür, dass US-Präsident Joe Biden den Wahlsieger Anfang des Monats anrief und ihm gutes Gelingen wünschte. Boric hat versprochen, die staatliche Beteiligung an Bildung, Gesundheit und Altersversorgung deutlich zu erhöhen, ohne den fiskalischen Rahmen zu sprengen. Er hat also vor, was seit Theodore Roosevelt viele erfolgreiche Staaten getan haben, ehe sie durchstarteten, von Deutschland bis Japan. Boric wird auf diesem Wege einen Drahtseilakt vollführen müssen zwischen seinen kommunistischen Koalitionspartnern und der bürgerlichen Mitte, die er braucht. Sollte Boric das gelingen, könnte Chile in die erste Welt aufsteigen. Und es könnte für den gesamten Kontinent zu einem postpopulistischen Entwicklungsmodell werden.