London

Schuld war nicht der Mistel­zweig

Die britische Regierung sendet widersprüchliche Signale, wenn es um Omikron geht. Die Bevölkerung muss sich fragen, warum sie Restriktionen befolgen soll, auf die offenbar selbst Regierungsmitarbeiter pfeifen.

Schuld war nicht der Mistel­zweig

Es ist nicht überliefert, wie der bri­tische Gesundheitsminister Sajid Javid reagiert hat, als er erfuhr, dass seine Kabinettskollegin Thérèse Coffey den Briten wegen der neuen Sars-CoV-2-Variante empfahl, un­ter dem Mistelzweig keine Leute zu küssen, die sie nicht schon kennen. Seine öffentliche Reaktion war jedoch mit Sicherheit gemäßigter. Es gehe die Regierung nichts an, wer bei solchen Gelegenheiten wen küsse, sagte er. Man solle zwar vorsichtig sein, aber die Weihnachtszeit genießen, riet Javid. Der Kuss unter dem Mistelzweig sei für ihn und seine Frau eine Familientradition, fügte er hinzu.

Woher die Tradition stammt? Mancherorts wird weit ausgeholt und auf Frigga, die nordische Göttin der Liebe und der Schönheit, verwiesen. Die britischen Druiden glaubten wohl, dass Misteln Wunder vollbringen können. Doch darf man getrost davon ausgehen, dass es die Romane der viktorianischen Zeit waren, die den Brauch bis heute populär gemacht haben. In dieser durch strenge Benimmregeln ge­prägten Epoche war es Liebenden kaum anders möglich, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen, als durch den Kuss unter dem Mistelzweig. Wen interessiert dagegen, dass die Tränen Friggas um ihren von seinem blinden Bruder Hödur mit einem vergifteten Pfeil getöteten Sohn Balder rote Mistelbeeren in weiße wandelten, was die Götter bewog, ihn ins Leben zurückzuholen? Die viktorianische Verklemmtheit ist uns näher.

Vor der Verhängung erneuter Coronarestriktionen am Mittwoch hatte die britische Regierung mit sehr unterschiedlichen Botschaften auf Omikron reagiert. Jenny Harries, die Chefin der frischgebackenen UK Health Security Agency, die als stellvertretende Chief Medical Officer im März 2020 noch gegen das Tragen von Masken agitierte, forderte die Briten dazu auf, ihre sozialen Kontakte in der Vorweihnachtszeit weitgehend zu reduzieren. Im Homeoffice wurden die Karrierebeamten angewiesen, die Teilnehmerzahl bei Weihnachtsfeiern so klein wie möglich zu halten. Man solle wegen einer solchen Feier nicht extra anreisen. Zudem sei der gemeinsame Verzehr von Speisen und Getränken tunlichst zu vermeiden. Nun sind Weihnachtsfeiern in Großbritannien am ehesten mit dem Faschingstreiben in Gerhard Polts „Kehraus“ zu vergleichen. Der Trinksport hat am Jahresende Hochsaison. Gerne wäre man dabei, um zu sehen, wie lange es dauert, bis im Homeoffice unter dem Mistelzweig die letzten Hemmungen fallen und bis in die frühen Morgenstunden am Kopierer Hinter- und andere Körperteile vervielfältigt werden, während die Whiskyflasche kreist.

Widersprüchliches Messaging ist eine Sache. Schlimmer für die Regierung ist, dass der „Daily Mirror“ von einer alkoholschwangeren Weihnachtsfeier mit 40 bis 50 dicht an dicht gedrängten Teilnehmern am Amtssitz von Premierminister Boris Johnson berichtete. Sie soll sich im vergangenen Jahr zugetragen haben, als der Rest des Landes dazu verdonnert war, sich zu Hause zu verschanzen. Es könnte gut sein, dass sich Johnsons ehemaliger Chefstratege Dominic Cummings hier als Knecht Ruprecht versucht hat. Der von der Boulevardzeitung einer anonymen Quelle zugeschriebene Halbsatz, Johnsons Ehefrau Carrie sei süchtig nach solchen Events, würde zu ihm passen. Cummings rät der Regierung, in dieser Sache nicht zu lügen. Tatsächlich versuchte 10 Downing Street gar nicht erst zu leugnen, dass der Event stattgefunden hat. Die offizielle Linie, die von allen Kabinettsmitgliedern wiederholt wird, die sich dieser Tage Reportern stellen, lautete folgendermaßen: An diesem Abend seien alle Coronaregeln eingehalten worden. Die eigentliche Frage ist, warum sämtliche Teilnehmer der Party es nicht für nötig hielten, die Vorsichtsmaßnahmen zur Eindämmung des Virus zu befolgen.

Unumkehrbar sollte die Aufhebung der Coronamaßnahmen am 19. Juli sein, dem „Freedom Day“, wie ihn Johnson taufte. Dann erfand er „Plan B“. Nach verschärften Einreisebeschränkungen soll nun auch wieder von zu Hause aus gearbeitet werden. Das Land be­wegt sich erneut Richtung Lockdown. Doch keiner hält sich an Restriktionen, die von denen, die sie verhängen, selbst nicht befolgt werden. Sieht man den Ärger unter Johnsons Parteifreunden, wird es für ihn keinen „Plan B“ geben.