Siemens wächst über Konkurrenten hinaus
Von Michael Flämig, München
Siemens ruft die Aktionäre am Donnerstag zur Hauptversammlung. Zeitgleich legt der Konzern das Ergebnis des ersten Quartals 2021/2022 vor. So weit, so normal. Investoren und Öffentlichkeit fragen sich allerdings zunehmend: Welcher Maßstab ist richtig für die Beurteilung von Siemens? Die Frage mag banal erscheinen, hat es aber in sich. Denn ein Vergleich mit der Performance der Vergangenheit führt in die Irre, schließlich gibt es seit der Aufspaltung das altbekannte Siemens nicht mehr.
Aufsichtsratschef Jim Hagemann Snabe ist sich dieser Tatsache natürlich bewusst. Siemens habe ein weit klareres Profil als noch vor vier Jahren, lautet seine Botschaft an die Aktionäre: „Das Unternehmen ist wachstumsstärker und profitabler.“
Das Volumen der adressierbaren Märkte sei ausgehend von 440 Mrd. Euro um 120 Mrd. Euro erhöht worden, wird Vorstandsvorsitzender Roland Busch am Donnerstag vorrechnen. Wachstum also ist ein Kernziel der neuen Siemens – schließlich ist es „ein Technologiekonzern mit klarem Fokus auf zukunftsweisende Geschäftsfelder“, wie auch Vera Diehl, Portfoliomanagerin von Union Investment, feststellt.
Bisher liefert Siemens. Im vergangenen Geschäftsjahr wurde ein vergleichbares Umsatzplus von 11,5% erreicht – gerechnet ohne den Einfluss von Währungs- und Portfolioeffekten. Allerdings waren die Erlöse 2019/2020 wegen der Pandemie um 2% geschrumpft, so dass das Wachstum einen Aufholeffekt beinhaltet.
Für die Zukunft hat der Konzern auf seinem Kapitalmarkttag am 24. Juni 2021 über den Geschäftszyklus hinweg – darunter verstehen die Münchner drei bis fünf Jahre – einen Wert von 5 bis 7% versprochen. „Damit plant das Unternehmen, deutlich stärker als der Markt zu wachsen“, so die Einschätzung des Vorstands. Seit der Abspaltung von Siemens Energy hatten 4 bis 5% als Ziel gegolten. Sogar diese Vorgabe war im historischen Kontext anspruchsvoll, denn in den Jahren 2016/2017 bis 2018/2019 wurden nur 3%, 2% und 3% erreicht.
GE fällt zurück
Doch weil der Vergleich mit der Vergangenheit entwertet ist, muss sich Siemens nun vor allen Dingen mit der Konkurrenz messen lassen. Früher war der Blick auf General Electric gerichtet. Die Amerikaner galten als unerreichbares Vorbild.
Diese Zeiten sind vorbei. Denn der Konzern hat sich von seinen geschäftlichen Turbulenzen nicht erholt. Allein zwischen November 2016 und November 2020 stürzte der GE-Aktienkurs um mehr als 60% ab. Mittlerweile eignet sich das Unternehmen nicht einmal mehr als Beleg für eine operative Überlegenheit von Siemens. Luftfahrt und Energie sind keine Bezugspunkte für die Münchner, und Gesundheit ist die Domäne der Siemens-Tochter Healthineers.
Was also zählt für Siemens? In der Bahntechnik ist Alstom die wichtigste Bezugsgröße, Siemens Healthineers blickt vor allem auf Philips. Im Kerngeschäft der Digitalen Fabrik sind der US-Konzern Rockwell Automation, die französische Schneider Electric und ABB aus der Schweiz die entscheidenden Adressen.
Schneider Electric hat sich auf dem Kapitalmarkttag am 30. November 2021 ein jährliches Umsatzplus von durchschnittlich 5 bis 8% zum Ziel gesetzt bei einem prognostizierten Wachstum des Marktes von 4%. Dies ist ohne Zukäufe gerechnet, die Vorgabe für das organische Wachstum gilt für den Zeitraum 2022 bis 2024. Über einen Geschäftszyklus hinweg soll das organische Umsatzplus im Schnitt 5% betragen.
Bereits am 10. November 2021 hat Rockwell auf der Investorenkonferenz bestätigt, den Umsatz innerhalb von zwei bis drei Jahren von 7 Mrd. Dollar auf mehr 9 Mrd. Dollar erhöhen zu wollen. Das Umsatzwachstum infolge mehrerer Unternehmenskäufe ist in diesem Ziel für die Geschäftsjahr 2023 oder 2024 eingerechnet und wird unspezifisch mit mehr als 1% jährlich angegeben. Zukäufe und Joint Ventures, die zwischen 2016 und 2021 verabredet wurden, sollen im Jahr 2025 einen Umsatz von mehr als 1,1 Mrd. Dollar beisteuern.
Für ABB gilt seit dem Kapitalmarkttag am 7. Dezember 2021 eine erhöhte Vorgabe. Während der Umsatz über den Konjunkturzyklus hinweg bisher währungsbereinigt um 3 bis 5% zulegen sollte, sind nun 4 bis 7% geplant. Das organische Umsatzplus wird demnach 3 bis 5% betragen, der Rest soll aus fünf oder mehr kleineren bis mittleren Akquisitionen jährlich kommen.
Hohe Investitionen
Wie also steht Siemens im Vergleich zu dem Trio da? Die Wachstumsambitionen der Münchner können sich sehen lassen. Sie wollen deutlich mehr als ABB erreichen. Auch gegenüber Schneider Electric hat Siemens über den Zyklus hinweg etwas mehr Potenzial. Der Vergleich zu Rockwell ist angesichts der unterschiedlichen Messgrößen schwierig, aber Siemens liegt hier auf Augenhöhe. Klar ist aber auch: Alle vier Unternehmen diagnostizieren Rückenwind für ihr Geschäft. Dynamik ist in diesem starken Umfeld eine Selbstverständlichkeit. Leistung entsteht erst aus besonders ausgeprägter Dynamik.
Siemens bringt dafür gute Voraussetzungen mit. Der Konzern hat, wie Busch vorrechnet, seit dem Jahr 2007 für den Zukauf von Softwareunternehmen rund 12 Mrd. Euro ausgegeben. Die Basis für das Wachstum ist also vorhanden. Mehr noch: Die Investitionen in Forschung und Entwicklung hat bereits Buschs Vorgänger Joe Kaeser gemeinsam mit Finanzvorstand Ralf Thomas stark erhöht. In den Geschäftsjahren 2015/2016 bis 2019/2020 investierte Siemens im Schnitt 8% seiner Erlöse wieder in neue Erfindungen, 5% waren es im Schnitt bei der Konkurrenz (ABB, Alstom, Dassault, Philips, Rockwell und Schneider). So setzte beispielsweise Schneider im Zeitraum 2017 bis 2021 nur 5,1% an.
Siemens sei auch profitabler als früher, wird Snabe am Donnerstag vortragen. Tatsächlich hat die Abspaltung von Siemens Energy die angepasste Ebita-Marge um mehr als drei Prozentpunkte erhöht. Beispielsweise im Geschäftsjahr 2018/2019 hatte Siemens 10,9% erwirtschaftet, ohne das Energiegeschäft (und inklusive einiger kleinerer Veränderungen) wären es 14,4% gewesen.
In der Zukunft möchte Siemens den bereinigten Gewinn überproportional zum Umsatz steigern. Das Ergebnis je Aktie vor Kaufpreisallokation (PPA) soll jährlich um einen hohen einstelligen Prozentsatz zulegen. Siemens steht auch mit dieser Ambition nicht alleine da, die Konkurrenz setzt sich ebenfalls höhere Ziele. Rockwell will den Gewinn pro Aktie ebenfalls stärker als den Umsatz steigern, aber ohne PPA-Effekte herauszurechnen. Schneider Electric zielt auf eine angepasste Ebita-Marge von 18 bis 19% im Jahr 2024, sie soll um 0,3 bis 0,7 Prozentpunkte pro Jahr zulegen. ABB ist vorsichtiger. Die Schweizer wollen eine operative Ebita-Marge von mindestens 15% vom Jahr 2023 an erreichen, ausgehend von rund 14%.