Skorpione in Amerikas Servicewüste
Notiert in New York
Skorpione in der US-Servicewüste
Von Alex Wehnert
Die Mitarbeiterin des Postamts in der 116. Straße im New Yorker Stadtteil Harlem stiert entnervt hinter ihrer Panzerglasscheibe hervor. „Die Umschläge sind zu dick, die kann ich nicht annehmen“, schleudert sie den Kunden am Schalter, die gerade fünf Briefe über den Einschreiben-ähnlichen Service „Certified Mail“ verschicken wollen, im Brustton der Überzeugung entgegen. Gegenüber Erwiderungen, dass es gemäß den Regeln des United States Postal Service nicht auf die Dicke der Umschläge, sondern auf das Gesamtgewicht der Briefe ankomme, zeigt sich die Dame mit akuter Taubheit geschlagen. Die Kunden müssten ihre Sendungen in dünnere Umschläge umpacken – mit solchen könne die Post zwar nicht dienen, aber dafür sei ja das nächste Schreibwarengeschäft da.
Die Szene zeichnet ein durchaus repräsentatives Bild der Servicewüste USA. Schlecht bezahlte Mitarbeiter ohne Lust auf ihren Job, ob auf dem Amt oder in anderen Einrichtungen, verweigern Kunden aus purer Willkür simpelste Dienstleistungen. Der US Postal Service zeigt sich dabei als wahrer Skorpion in diesem Ödland – und entfaltet besonders giftige Wirkung in Kombination mit den Steuerbehörden in Washington und im Staat New York. Denn wer zu den unglücklichen 10% der Zahler gehört, die gezwungen sind, ihren „Return“ per Post einzureichen, der kann sich auf schmerzhafte Stiche gefasst machen.
Sichergehen, dass die wichtigen Schreiben auch ankommen, können Steuerzahler nämlich kaum. Selbst wer den Aufwand betreibt und die für „Certified Mail“ nötigen Formulare ausfüllt (und diese auch ja an den exakt richtigen Stellen auf den möglichst dünnen Briefumschlag klebt), kann wochenlang auf seine Zustellbestätigung warten, sofern diese beim USPS nicht wieder prompt verschlampt wird.
Vermeintliche Steuerexperten auf der Videoplattform Youtube raten deshalb auch dazu, der Steuererklärung einen frankierten Rückumschlag an den Internal Revenue Service (IRS) beizulegen und um eine schriftliche Bestätigung des Erhalts der Dokumente zu bitten. Wer allerdings ernsthaft glaubt, dass sich ein IRS-Beamter erbarmt, diese Bestätigung auch zurückzusenden, dem stehen wahrscheinlich noch einige herzzerbrechende Erkenntnisse zum Weihnachtsmann und Osterhasen bevor.
Behörden cashen gern doppelt ein
Besonders nervös sind mit Fristablauf für die Steuererklärung am 15. April Zahler geworden, die aufgrund defekter Online-Portale der Behörden gezwungen waren, ihre Schulden an den Staat wie in grauer Vorzeit per eingesendetem Scheck zu begleichen. Denn sie haben im Zweifel Tausende Dollar auf einen Schlag in ähnlich kompetente Hände wie jene der Mitarbeiterin des Postamts in der 116. Straße gegeben. Nun kommt allerdings Erleichterung auf: Die Steuerbehörden lösen derzeit die Schecks ein – und buchen die gleiche Zahlung dann auch gerne nochmal elektronisch ab. Irgendwie müssen sich die hohen Ausgaben Washingtons und Albanys für die Wirtschaftsförderung ja finanzieren.