Im BlickfeldMangelnde Wettbewerbsfähigkeit

Strukturwandel fordert Europas Stahlindustrie heraus

Thyssenkrupp Steel ist nur das prominenteste Beispiel für Niedergang und Zukunft der deutschen Stahlindustrie. Nur nach Schutz vor Billigimporten zu rufen, greift zu kurz. Es geht vielmehr um ganz Grundsätzliches.

Strukturwandel fordert Europas Stahlindustrie heraus

Strukturwandel fordert Stahlindustrie heraus

Der Ruf nach Schutz vor Billigimporten verkennt die wahren Gründe für die mangelnde Wettbewerbsfähigkeit.

Von Annette Becker, Köln

Thyssenkrupp Steel Europe steht symbolisch für den Niedergang wie auch die Zukunft der europäischen Stahlindustrie. Am Freitag konnten sich Eigentümer, IG Metall und Stahlvorstand in der Aufsichtsratssitzung nur auf einen Minimalkompromiss verständigen. Stattdessen gab es im Nachgang Vorwürfe von jeder Seite an die jeweils andere. Während Sigmar Gabriel in seiner Funktion als Aufsichtsratsvorsitzender der Stahlsparte die Bringschuld beim Mutterkonzern Thyssenkrupp sieht, ist Thyssenkrupp-Chef Miguel López anderer Ansicht.

López geht der vorgelegte Restrukturierungsplan nicht weit genug. „Uns als Thyssenkrupp AG und verantwortlicher Eigentümerin geht es darum, dass der Vorstand von Steel Europe endlich einen langfristig tragfähigen, soliden Businessplan für die Neuausrichtung des Stahlbereichs vorlegt.“ Gefragt sei „ein nüchterner, realistischer Blick in die Zukunft ohne Hoffnungswerte und ohne Schönfärberei“. Faktisch lässt die notwendige Restrukturierung, die weit über die Kapazitätsreduktion der Rohstahlproduktion um 2 bis 2,5 Millionen Tonnen hinausgeht, weiter auf sich warten. Denn auch an die Weiterverarbeitungskapazitäten muss Hand angelegt werden.

Tiefer Absturz

Die Stahlsparte von Thyssenkrupp ist jedoch nur das prominenteste Fallbeispiel. Erst am Montag kündigte Salzgitter an, zusätzlich zum laufenden Performanceprogramm weiter Kostensenkungsmaßnahmen einzuleiten. „Das Jahr 2024 ist für die deutsche Stahlindustrie eines der herausforderndsten der vergangenen Jahrzehnte“, sagte Salzgitter-Chef Gunnar Groebler und kündigte weitere strukturelle Anpassungen an.

Auch der europäische Branchenverband Eurofer schlug kürzlich Alarm: Der Stahlmarkt stürze noch tiefer ab als bislang antizipiert. Der Grund: Die ohnehin schwache Nachfragesituation aufgrund hoher Energiepreise, Inflation und geopolitischer Verwerfungen werde durch die Branchenkrisen in der Automobil- und der Bauindustrie noch verschärft. Das sind die beiden wichtigsten Abnehmerindustrien. Auf den Bau entfällt Eurofer zufolge ein Anteil von 35,5%, auf Automotive von 19,1%. In Deutschland fällt die Abhängigkeit von der Autoindustrie mit 28% sogar noch größer aus.

Überkapazitäten drücken Preise

Die konjunkturelle Malaise führte letztlich dazu, dass Eurofer die Prognose für 2024 und 2025 stutzte. Für 2024 wird nur noch mit einem Plus in der Stahlnachfrage von 1,4 (zuvor: 3,2)% gerechnet, für 2025 von 4,1 (5,6)%. Die Wirtschaftsvereinigung Stahl rechnet „frühestens im kommenden Jahr“ mit einer nachhaltigen Erholung. Zugleich dürfte der Anteil der Stahlimporte an der Nachfrage nach Einschätzung von Eurofer mit 27% auf ihrem historischen Hoch verharren.

Die weltweiten Überkapazitäten führen letztlich dazu, dass die Preise weiter fallen. Allen voran steht dabei China am Pranger, das seine überschüssige Produktion auf den Weltmarkt wirft. Auch in der Volksrepublik hinterlässt die Krise am Immobilienmarkt Spuren in der Stahlnachfrage. Nach Angaben von ArcelorMittal, dem zweitgrößten Stahlproduzenten weltweit, liegen die Stahlpreise sowohl in Europa als auch in den USA mittlerweile unter den Grenzkosten. Der Ruf nach Schutz vor Billigimporten ertönt daher von allen Seiten.

„Wir wünschen uns einen engen Schulterschluss mit anderen marktwirtschaftlich orientierten Ländern, insbesondere den Vereinigten Staaten, um gegen klimaschädliche und marktverzerrende Überproduktion vorzugehen“, sagt Martin Theuringer, Geschäftsführer der Wirtschaftsvereinigung Stahl. Wenngleich das Global Sustainable Steel Arrangement im vergangenen Jahr gescheitert sei, sollten die Gespräche wieder aufgenommen werden, lautet sein Petitum.

Allerdings ist der Verweis auf die Billigimporte nur die Hälfte der Wahrheit. Hierzulande schwindet die internationale Wettbewerbsfähigkeit vor allem auch aufgrund der hohen Energiekosten und künftig der Wasserstoffkosten. Zwar sind die Strompreise längst von ihren krisenbedingten Hochs zurückgekommen. Nach Angaben der Wirtschaftsvereinigung Stahl sind sie aber immer noch doppelt so hoch wie vor der Krise. Noch dazu liegen sie weit über dem Niveau von Ländern wie den USA oder China, aber auch Frankreich und Spanien.

Grüner Stahl braucht viel Strom

Immerhin haben die gesunkenen Strompreise dazu beigetragen, dass die Elektrostahlerzeugung im ersten Halbjahr dieses Jahres wieder um 9% zulegte. Das ist insofern von Bedeutung, als zumindest in Europa der Zug der Zeit Richtung grünen Stahl fährt. Damit tut sich aber sogleich das nächste Problem auf: Der klimapolitisch gewollte Umstieg vom Hochofen auf Direktreduktionsanlagen zur Produktion von Eisenschwamm, der anschließend im Elektrostahlverfahren zu Rohstahl weiterverarbeitet wird, steigert den Strombedarf um ein Vielfaches. Liegt der Energiekostenanteil für eine Stahlbramme, ein Stahlzwischenprodukt, auf der Hochofenroute bei etwa 5%, wird sich der Energiekostenanteil in der grünen Stahlwelt auf etwa 45 bis 50% belaufen.

Auf die Veredelung kommt es an

Das wirft die Frage auf, warum Deutschland trotz wenig wettbewerbsfähiger Rahmenbedingungen an der vollständigen Stahlwertschöpfungskette festhält. Alternativ ließe sich grüner Eisenschwamm auch importieren. „Einfach heimisch produzierten Stahl durch Importstahl zu ersetzen, würde gefährliche Abhängigkeiten erzeugen und weitere Deindustrialisierungsprozesse bei nachgelagerten Branchen auslösen“, warnt Theuringer.

Dass es anders geht, macht die österreichische Voestalpine vor. Sie hat sich langfristig Eisenschwamm aus der von ihr gebauten, inzwischen aber mehrheitlich veräußerten Direktreduktionsanlage im texanischen Corpus Christi gesichert. Die Weiterverarbeitung findet dagegen auch künftig in Österreich statt.

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