Italien

Stunde der Wahrheit für Mario Draghi

In Kürze wird Italiens Ministerpräsident seine Pläne mit den Milliarden aus dem Europäischen Wiederaufbauprogramm vorstellen. Er gilt als weithin respektiert und angesehen – aber ist er auch erfolgreich?

Stunde der Wahrheit für Mario Draghi

Von Gerhard Bläske, Mailand

Italiens Premierminister Mario Dra­ghi ist eingeknickt. Angesichts des massiven Drucks vor allem von Lega-Chef Matteo Salvini und der vielen Kleinunternehmen, die seit Wochen für eine Lockerung der Coronarestriktionen demonstrieren, öffnet er das Land ab Montag sukzessive. Das reicht den Öffnungsbefürwortern immer noch nicht. Dabei liegt die Sieben-Tage-Inzidenz mit 180 Neuansteckungen pro 100000 Einwohner über der in Deutschland, und auch die Zahl der täglichen Sterbefälle ist wesentlich höher. In den Regionen weiß man nicht, warum die Schulen sechs Wochen vor Beginn der Sommerferien geöffnet werden. Denn es gibt zu wenige Tests, und die Furcht vor einer Überfüllung der öffentlichen Verkehrsmittel ist groß.

Draghis Handeln ist unverständlich. Dies gilt umso mehr, als er noch vor zwei Wochen jegliche Lockerung an Fortschritte in der Impfkampagne geknüpft hatte. Bei den Impfungen kommt das Land nach wie vor nicht richtig voran. Doch der Premierminister sieht sich offenbar gezwungen, Handlungsfähigkeit zu demonstrieren. Er schüttet die Unzufriedenen mit Geld zu. In nur zwei Monaten hat er schon zwei Nachtragshaushalte mit einer Neuverschuldung von 75 Mrd. Euro vorgestellt: Hilfen vor allem für die Tourismusbranche, für Hotels, Restaurants und Cafés, für die vielen Kleinselbständigen. Dazu sollen Moratorien für Kreditrückzahlungen und die Verlängerung der Kreditlaufzeiten kommen.

Denn das Wachstum kommt nicht in Gang. Die Wachstumsprognose für 2021 wurde von 6 auf 4,5% zurückgenommen, die Schulden dürfen auf 160% des Bruttoinlandsprodukts steigen (siehe Grafik) – ein Wert, der vor kurzem für nicht tragfähig gehalten wurde. Bis 2026 sollen 500 Mrd. Euro neue Schulden dazukommen.

240 Mrd. Euro verplanen

Bis dato sind kaum Unterschiede zwischen der Politik Draghis und der seines Vorgängers Giuseppe Conte auszumachen. Das könnte sich nun ändern. Am 30. April will der Premierminister die Pläne für die Verwendung der Mittel des Europäischen Wiederaufbauprogramms vorstellen. Zusammen mit anderen europäischen Hilfen und weiteren 30 Mrd. Euro aus eigener Tasche soll das Land fast 240 Mrd. Euro zur Verfügung haben. Das Geld soll in neue Infrastruktur wie Bahnlinien, Straßen, Energie- und Breitbandnetze fließen, in die Digitalisierung von Wirtschaft und Verwaltung, in ökologische Projekte, in Schulen und in das marode Gesundheitssystem. Die lahme Justiz und die schwerfällige Verwaltung sollen auf Trab gebracht und die Bedingungen für Investoren verbessert werden. „Das italienische Steuersystem belohnt Leistung nicht und belastet vor allem die unteren und mittleren Einkommensgruppen“, sagt der Ökonom Carlo Cottarelli. Mehr Investitionen von Unternehmen sollen die seit 25 Jahren stagnierende Produktivität steigern.

Ob es gelingen kann, die jahrzehntelangen Blockaden zu lösen, ist mehr als fraglich. Wenn überhaupt, kann wohl nur Draghi die Bremsen lösen. Er ist weithin respektiert. Er hat eine so breite parlamentarische Mehrheit wie kaum ein Vorgänger, und er hat eine Regierung gebildet, an deren Schlüsselpositionen parteilose Fachleute sitzen. Draghi genießt das Vertrauen der Wirtschaft und der internationalen Finanzmärkte: Der Zinsabstand (Spread) zwischen zehnjährigen deutschen und italienischen Staatsanleihen ist seit seinem Amtsantritt deutlich geschrumpft. Jörg Buck, Chef der deutsch-italienischen Handelskammer, ist optimistisch: „Das Beispiel des Wiederaufbaus der Autobahnbrücke von Genua in weniger als zwei Jahren zeigt, dass Italien das kann.“

Italien verfügt über einen starken Mittelstand. Die drittgrößte Volkswirtschaft der Eurozone ist das zweitgrößte Industrieland des Wirtschaftsraumes und weist einen hohen Handelsbilanzüberschuss aus. Auf den Kontokorrentkonten liegen 1800 Mrd. Euro, die (theoretisch) zu mobilisieren sind. Doch auch Draghi ist kein Wundermann. Er hat maximal zwei Jahre bis zu den nächsten Wahlen. Es ist fraglich, ob es ihm gelingt, Reformen, die seit Jahrzehnten nicht angegangen wurden, so schnell zu realisieren. Die Mafia und andere kriminelle Organisationen sitzen schon an den Geldtöpfen. Die demografische Situation des Landes ist verheerend, und die Beschäftigungsquote unter Frauen liegt mit 48,5% weit unter dem europäischen Durchschnitt von 63%. Hinzu kommt ein Schul-, Ausbildungs- und Universitätssystem, das am Bedarf der Wirtschaft vorbeiproduziert und zu viele Abbrecher aufweist.

Draghi muss jetzt liefern. Dass er weitere Milliarden in die Rettung von Pleiteunternehmen wie Alitalia und das Ilva-Stahlwerk von Taranto stecken will, an einer teuren und ineffizienten Mindestsicherung festhält und protektionistische Maßnahmen ausweitet, stimmt nicht gerade optimistisch, dass er auf dem richtigen Weg ist. Es ist nicht realistisch, dass Italien je von der hohen Verschuldung herunterkommt. Draghi hat bereits erkennen lassen, dass er eine weitere gemeinsame Schuldenaufnahme in der EU, eine Streichung von Schulden und eine dauerhafte Lockerung des Stabilitätspakts für denkbar hält. Das alles sind keine guten Vorzeichen für Europa.