Digitalisierung

Stunde null

Nach dem Lockdown können sich die Tarifparteien der privaten und der öffentlichen Banken nicht mehr um das Thema Digitalisierung drücken.

Stunde null

In wenigen Wochen ist es wieder so weit: Anfang Juli müssen sich die Arbeitgeber der privaten und öffentlichen Banken wieder an den Verhandlungstisch mit den Gewerkschaften setzen, um die neue Tarifrunde für annähernd 200 000 Beschäftigte auszuhandeln. Oder genauer gesagt: an die Verhandlungstische. Denn anders als in der letzten Tarifrunde vor zwei Jahren verhandeln die Arbeitgeber nicht mehr als Tarifgemeinschaft, sondern getrennt nach Verbänden. Wie zu hören ist, war es auch die Frustration über die zähe letzte Verhandlungsrunde, die zu der Trennung auf der Arbeitgeberseite geführt hat. Den öffentlichen Banken wurde dem Vernehmen nach zu viel diskutiert über Beschreibungen von Tätigkeiten, die es zum Teil in dieser Form gar nicht mehr gibt, und zu wenig über die Frage, wie ein neues Tarifgerüst beschaffen sein muss, um der Digitalisierung und dem damit einhergehenden Wandel Form und Struktur zu geben.

Auch die Gewerkschaften tun sich sichtlich schwer damit, eine Position zu entwickeln, die dem technologischen Umbruch Rechnung trägt, den die Branche derzeit durchläuft. Noch ist der Prozess der „Forderungsfindung“, mit deren Hilfe sich die dominierende Dienstleistungsgewerkschaft Verdi von ihren Mitgliedern einen Verhandlungsauftrag ins Stammbuch schreiben lässt, nicht abgeschlossen. Schon jetzt kann es jedoch als unwahrscheinlich gelten, dass sich die Gewerkschaftsposition auf die in der vergangenen Runde erhobene Forderung nach zusätzlichen freien Tagen beschränkt, in denen sich die Bankerinnen und Banker von den Mühen der Digitalisierung erholen können. Immerhin haben die Beschäftigten der Banken pandemiebedingt gerade einen, wenn auch unfreiwilligen, Crashkurs in Sachen Digitalisierung hinter sich gebracht. Kaum eine andere Branche ist in den vergangenen Monaten auf eine derart hohe Homeoffice-Quote gekommen wie der Finanzsektor. Auch die vermeintlich unverzichtbaren persönlichen Kundengespräche konnten überraschend schnell und reibungslos auf andere Kanäle wie die Videokonferenz, den Online-Chat oder das gute alte Telefon transferiert werden.

Dieser Prozess hat zweifelsohne teilweise zu Überlastungssituationen bei den Beschäftigten geführt. Die Gründe hierfür dürften jedoch weniger in der Herausforderung durch die moderne Technik zu suchen sein als vielmehr in der bisweilen unzumutbaren Mehrfachbelastung, die für einen Teil der Beschäftigten mit der zeitgleich stattfindenden Schließung von Kindertagesstätten und Schulen einherging. Nicht unerwähnt bleiben soll hier auch die massive Belastung von alleinlebenden Berufstätigen, die der staatlich verordnete gesellschaftliche Stillstand und der Druck, nach Möglichkeit von zuhause aus zu arbeiten, über Monate weitgehend in die Isolation zwang.

Die Pandemie hat jedoch nicht nur ihre Spuren in der Psyche der Arbeitnehmer hinterlassen, sondern auch in den Vertriebsstrategien der Banken. Die vergangenen Monate haben gezeigt, dass viel mehr Kunden bereit sind, ihre Bankbeziehung zur Fernbeziehung zu machen, als man dies 2019 für möglich gehalten hätte. Das hat das Filialsterben beschleunigt; viele zunächst nur temporär geschlossenen Geschäftsstellen werden nie wieder ihre Pforten öffnen. Das spart Kosten, wie die Restrukturierungsfortschritte der beiden privaten Großbanken zeigen. Zugleich müssen die Tarifparteien aber auch Antworten auf die Frage finden, wie die neue Arbeitswelt der Kreditwirtschaft nach Corona aussehen soll – und was aus den Beschäftigten werden soll, deren Aufgaben durch Automatisierung und cloudgestützte Digitalisierungsprozesse in Zukunft nicht mehr benötigt werden.

Jetzt, da dank sinkender Inzidenzen die Innenstädte, Kulturstädten und auch die Büros wieder zum Leben erwachen, ist für die Tarifparteien der Kreditwirtschaft die Stunde null gekommen. Viele Gewissheiten, die frühere Verhandlungen lähmten, haben sich als überholt erwiesen. Andere, in der Vergangenheit oftmals als esoterisch angehauchte Floskeln abgetane Losungen wie die Forderung nach lebenslangem Lernen, nach weniger hierarchischen Formen der Zusammenarbeit und der Work-Live-Balance in Zeiten permanenter Erreichbarkeit durch den Arbeitgeber haben ihre Berechtigung eindrucksvoll manifestiert. Vor diesem Hintergrund wäre es den Banken zu wünschen, dass sich die Tarifparteien nicht wieder nur an ein paar Prozentpunkten abarbeiten, sondern endlich so unvoreingenommen miteinander sprechen, wie es die historische Dimension des technologischen Umbruchs erfordert.