Schanghai

Taxman jagt Livestreamgirl

Livestream-E-Commerce gilt für chinesische Berufsanfänger als der schnellste Weg zum großen Geld. Nun ist aber der schläfrige Fiskus aufgewacht.

Taxman jagt Livestreamgirl

Einfach hinreißend sehen sie aus, mit ihren dezent schönheits­operierten Gesichtsformen, dem chirurgisch­ leicht aufgeplusterten Schmollmündchen und den riesenhaften Kulleraugen mit angetackerten Klimperwimpern. Der für chinesische Social-Media-Nutzer unwiderstehliche Niedlichkeitslook ist gleichzeitig auch der Kern des Geschäftsmodells von bekannten Livestreamern wie Zhu Chenhui und Lin Shanshan. Sie bestreiten ihren Broterwerb damit, chinesische Verbraucher in einen Online-Kaufrausch zu versetzen. Und zwar mit dem in China seit Pandemiezeiten rasend schnell verbreiteten Vermarktungskanal des E-Commerce-Livestreams.

Überall auf der Welt kennt man „Influencer“, die auf Facebook oder Instagram ihre Vita in Bilderstrecken und Kommentaren ausbreiten und sich fürstlich dafür bezahlen lassen, dass auf ihren Fotos und Videos bestimmte Mode- und Markenartikel zu sehen sind. Bei den chinesischen Livestream-Promotoren jedoch handelt es sich um eine andere Spezies. Hier sind eher Quasselstrippen gefragt, die mit einem bestimmten Look samt treuherzigem Augenaufschlag und meist kindlicher Piepsstimme in stundenlangen Livestream-Sessions Zuschauer bei der Stange halten, die dann während der Sendung laufend Artikel ordern und per Smartphone direkt bezahlen.

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Chinas Livestream-E-Commerce ist gerade auch für ausländische Marken eine geradezu überlebenswichtige Vermarktungsschiene im weltgrößten Verbrauchermarkt geworden, mit der sich gigantische Reichweiteneffekte erzielen lassen. Entsprechend gibt es auch bereits das Berufsbild des professionellen Livestreamers, der seine Zeit und Hardselling-Talente für extrem gute Bezahlung zur Verfügung stellt. Tatsächlich weisen die meisten Livestreamer eine Universitätsausbildung auf, konnten sich aber mit ihren akademischen Qualifikationen im Arbeitsmarkt nicht sonderlich gewinnträchtig einbringen. Schließlich hat auch Chinas Arbeitsmarkt unter Covid gelitten.

Uni-Absolventen der Jahrgänge 2020 und 2021 stoßen auf nie gekannte Probleme, White-Collar-Jobs an Land zu ziehen, mit denen sich in Peking, Shanghai oder Shenzhen die Miete bezahlen lässt und auch noch etwas Geld für Essen, Entertainment und ein herzeigbares Smartphone übrig bleibt. Bei den meisten Unternehmen etwa werden frischgebackene Diplomanden mit Monatsgehältern von weniger als 10000 Yuan (rund 1300 Euro) empfangen. Laut einer Aufstellung der Anzeigen- und Jobvermittlungsplattform 58.com sind Livestreamer vor Ärzten, Anwälten und Software-Ingenieuren zu Chinas bestbezahlten Berufsanfängern mit Uni-Diplom avanciert.

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Dass sich mit Livestreaming so wunderbar gut leben lässt, mag freilich auch daran liegen, dass es sich um ein Metier handelt, bei der kein Arbeitgeber automatisch die Lohnsteuern an den Fiskus abführt. Wie bei zahlreichen selbstständigen Berufen in China kommen die Akteure gar nicht erst auf die Idee, dass sie dafür Steuern zu entrichten hätten. Entsprechend böse war das Erwachen bei den Top-Live­streamerinnen Zhu Chenhui und Lin Shanshan, die von den Behörden in der Tech-Metropole Hangzhou aus heiterem Himmel wegen Steuerhinterziehung angegangen wurden.

Aus Sicht des chinesischen Taxman geht es darum, ein Exempel zu statuieren, das genügend anderen Livestream-Großverdienern jenen heiligen Schrecken einjagt, der sie aus freien Stücken zu Selbstanzeigen oder eiligen Nachzahlungen animiert. Entsprechend happig fielen die Strafen für Zhu und Lin mit umgerechnet 9 beziehungsweise 4 Mill. Euro aus. Man könnte glatt von einem „Uli-Hoeneß-Effekt“ für die technikaffine junge Generation sprechen. Mit dem Unterschied allerdings, dass chinesische Steuersünder praktisch nie ins Gefängnis wandern, sofern sie politisch unverdächtig sind. Gottlob bleibt also den beiden Livestreamprinzessinnen aus Hangzhou ein Zellenaufenthalt erspart. Den hätten sie nämlich in hässlichen Einheitskitteln mit ungeschminkten Gesichtern und schlechtem Wifi-Signal bestreiten müssen.