Autometropole Turin versucht einen Neustart
Im Blickfeld
Turin sucht den Anschluss
Italiens Autometropole versucht nach jahrelangem Niedergang einen Neustart
Von Gerhard Bläske, Turin
bl Turin
In Turin schlug über Jahrzehnte das industrielle Herz Italiens, vor allem der Autoindustrie. Im eleganten Palazzo Bricherasio aus dem 17. Jahrhundert, heute Sitz der Vermögensverwaltung der Banca Sella, gründete 1899 eine Gruppe von Aristokraten und namhaften Persönlichkeiten die „Fabbrica Italiana Automobili Torino“ (Fiat).
Prächtige Palazzi, großzügige Plätze sowie prachtvolle Cafés und Geschäfte künden von einstiger Größe und Reichtum. Doch in den letzten 50 Jahren hat die Stadt 400 000 Einwohner verloren. Von einst 70.000 Beschäftigten in und um das Fiat-Werk (heute Stellantis) im Stadtteil Mirafiori sind noch 11.000 übrig, fast alle in Kurzarbeit. Wo einst bis zu 1,5 Millionen Autos vom Band liefen, sind per Ende September 22.240 Autos produziert worden. Das Stellantis-Werk im nahen Grugliasco wurde Ende 2023 geschlossen. Unternehmenstöchter wie Magneti Marelli und Comau wurden verkauft. Und die Zulieferer, die über Jahrzehnte von Fiat lebten, bauen massiv Personal ab.
Turin sucht den Anschluss. In einer früheren Fiat-Halle in Mirafiori ist mit Mitteln aus dem europäischen Wiederaufbauprogramm „Next Generation“ eines von acht nationalen Kompetenzzentren eingerichtet worden. Es beschäftigt sich mit den Themen Additive Fertigung und der Digitalisierung von Produktionsprozessen. Handelskammer, Partnerunternehmen und die Universität helfen hier Mittelständlern, innovative Ideen marktfähig zu machen.
Riesige Untertasse
Am nördlichen Stadtrand Turins entwickelt und baut Argotec Mikrosatelliten für die Erdbeobachtung und die Telekommunikation. Das Unternehmen ist gerade in ein Gebäude des brasilianischen Star-Architekten Oscar Niemeyer eingezogen. Es sieht aus wie eine riesige Untertasse. Argotec, 2008 von David Arvino gegründet, stellte zunächst Astronautennahrung her. Der Durchbruch kam mit der Nasa-Mission DART: Ein Satellit von Argotec nahm elf Millionen Kilometer von der Erde entfernt Fotos auf, die bewiesen, dass es der Nasa gelungen war, den Asteroiden Dimorphos durch Beschuss von der Raumsonde aus von seinem Kurs abzubringen.
Das Unternehmen setzt heute mit 200 Beschäftigten in Italien und in den USA mehr als 60 Mill. Euro um. „Im SpacePark sollen sich Start-ups, Hochschulen und Forschungseinrichtungen ansiedeln“, sagt Unternehmenssprecher Xavier Bellanca. Platz gibt es. Italiens Luft- und Raumfahrtindustrie hat einen Schwerpunkt in der Region. Auch der halbstaatliche Rüstungs- und Raumfahrtkonzern Leonardo ist in Turin vertreten.
Abwanderung ins Ausland
Argotec und Unternehmen wie Newcleo, das an nuklearen Minireaktoren der Zukunft arbeitet, setzen auf das Potenzial der 100.000 Studenten in der 800.000-Einwohner-Stadt sowie Ex-Fiat-Manager. Auch der deutsche Maschinenbauer für die Halbleiterbranche, Aixtron, baut ein Werk bei Turin. Und in Novara will der Chiphersteller Silicon Box aus Singapur 3,2 Mrd. Euro investieren.
Doch Guido Bolatto, Generalsekretär der Handelskammer, beklagt, „dass viele Hochschulabsolventen ins Ausland abwandern“. Dort seien die Karrieremöglichkeiten oft besser und die Löhne attraktiver. Turin leidet auch unter seiner geografischen Randlage. Der Tunnel nach Frankreich (Fréjus) ist seit August 2023 gesperrt. Und die Bahn-Hochgeschwindigkeitsstrecke nach Lyon wird frühestens 2033 fertig. Das industrielle Herz Italiens schlägt heute in und um Mailand sowie in Venetien und in der Emilia-Romagna.
Kurswechsel
Die Autoindustrie trägt noch 5% zur Wertschöpfung der Provinz Turin bei. Neben Stellantis, den Designer- und Karosseriebauern Pininfarina und Italdesign, dem Nutzfahrzeugproduzenten Iveco und dem Landmaschinenkonzern CNH Industrial sind das viele Zulieferer und Spezialisten: so wie Danisi Engineering im Vorort Nichelino. Die Ingenieurfirma von Gründer und CEO Giacomo Danisi lebte früher von Fiat. „Ich habe mich bewusst für einen Kurswechsel entschieden und auf den High-End-Sektor gesetzt, auch wenn ich zunächst viel Umsatz verloren habe“, sagt er. Danisi entwickelt Komponenten, Prototypen und Kleinstserien von Luxusfahrzeugen, die bis zu 2 Mill. Euro kosten können. Auch Simulatoren für Mercedes-AMG oder Bugatti werden produziert.
Italdesing, 1968 von Giorgetto Giugiaro und Aldo Mantovani gegründet, hat den ersten VW Golf, den Passat, den legendären DeLorean DMC-12 und den Fiat Panda entworfen. Dann kam die Krise. 2010 übernahm die VW-Gruppe Italdesign. In den riesigen Hallen im Vorort Moncalieri werkeln heute 800 der 1.200 Beschäftigten des Unternehmens. Sie arbeiten an neuen Materialien, entwickeln Karbon-Komponenten und entwerfen Fahrzeuge wie das Superluxus-Elektro-Coupé Asso di Picche und vor einigen Jahren die Mini-Sonderserie Nissan GT-R50. Mit einem Umsatz von 267 Mill. Euro gehört Italdesign zu den größeren Unternehmen hier. 80% der Erlöse werden mit der VW-Gruppe erwirtschaftet.
„Nie mehr so wie früher“
Konkurrent Pininfarina hat sich nach einer schweren Krise zwar dank des indischen Großaktionärs Mahindra erholt und dem iPhone-Produzenten Foxconn wesentlich geholfen, Autos zu entwickeln. Doch Pininfarina ist nur noch ein Schatten früherer Zeiten.
Der langjährige Pininfarina-Mitarbeiter Paolo Garelli hat sich mit seiner Manifattura Automobili Torino (MAT) und 40 Mitarbeitern in einer Nische eingerichtet. Im ländlichen Vorort Rivalto hat MAT das legendäre Rally-Modell Lancia Stratos mit einem Ferrari-Motor für den deutschen Unternehmer Michael Stoschek (Brose) neu konzipiert. Und der mit 438 Km/h weltweit schnellste Elektro-Hypercar Aspark SP600 kommt von MAT. Garelli setzt auf reiche Privatkunden, „die ein einzigartiges Fahrerlebnis suchen und bereit sind, für ein maßgeschneidertes Fahrzeug bis zu 5 Mill. Euro auszugeben. Nur noch wenige in Turin bauen Autos“, sagt er bitter und gibt die Schuld daran auch der Politik.
Neben den Resten der Autoindustrie, interessanten neuen Unternehmen, der Bank Intesa Sanpaolo, die hier ihr in einem Wolkenkratzer von Renzo Piano ihr Versicherungsgeschäft konzentriert hat, und dem Kaffeehersteller Lavazza sind es oft nur zarte Pflänzchen, die da sprießen. „So wie früher wird es nie mehr“, sagt Giacomo Danisi.