London

Unter Detektiven

Die Briten haben nicht nur die Detektivgeschichte als Genre hervorgebracht. Gibt es einen aufsehenerregenden Fall, sind reichlich Amateurermittler mit von der Partie.

Unter Detektiven

Wahn und Wirklichkeit voneinander zu trennen, ist an nebeligen englischen Wintertagen gar nicht so leicht. Die Grenzen verwischen, wenn gleich nach der abendlichen Krimiserie in den Spätnachrichten der Polizeibericht sensationalisiert wird. Ein Verbrechen muss gar nicht vorliegen, um Spekulationen wild ins Kraut schießen zu lassen. Es reicht schon, wenn eine 45-jährige Hypothekenberaterin morgens in Lancashire ihren Hund an einem Fluss entlang ausführt und nicht nach Hause zurückkehrt. Schließlich glauben nach zwei aufsehenerregenden Morden in London wieder mehr Menschen, dass Frauen im Dunkeln nicht allein auf die Straße gehen sollten. Das entspricht zwar nicht der tatsächlichen Gefahrenlage, aber dem dumpfen Gefühl der Unsicherheit, das solche Fälle zurücklassen. Zudem liest man lieber G.K. Chestertons Geschichten über Pater Brown, die man in Deutschland aus den Verfilmungen mit Heinz Rühmann kennt, als Nassim Talebs „Fooled by Randomness“, in dem es um Wahrscheinlichkeiten und die Schwächen der eigenen Wahrnehmung geht.

Detektivgeschichten haben in England eben eine längere Tradition als philosophische Abhandlungen von Finanzmathematikern. Meist geht es um exzentrische Genies wie Edgar Allan Poes Auguste Dupin, Arthur Conan Doyles Sherlock Holmes oder Agatha Christies Hercule Poirot, die auch die harten Nüsse knacken können, an denen sich die offiziellen Ermittler die Zähne ausbeißen. Wenn die Polizei in den Nachrichten dabei zu sehen ist, wie sie auf der Suche nach der Vermissten die nahegelegene Morecambe Bay durchsucht, fallen einem Szenen aus der ITV-Serie „The Bay“ wieder ein, die dort spielt. Erstaunlich viele Menschen bewegte der Fall dazu, selbst die Ermittlungen aufzunehmen – ganz ohne die Begleitumstände zu kennen. Denn für sie war offenkundig, dass der Mutter zweier Töchter etwas Schreckliches angetan worden sein musste, auch wenn die Polizei stets betonte, dass ihr keine Hinweise darauf vorliegen. Aber natürlich weiß jeder, der durch Thriller und Fernsehserien hinreichend geschult wurde, dass es den Beamten an Durchblick mangelt.

St. Michael’s on Wyre entwickelte sich zum beliebten Reiseziel für zahllose Amateur­ermittler, Social-Media-Influencer und Verschwörungstheoretiker, die sich sogleich daranmachten, die Bemühungen der Polizei, die Vermisste zu finden, in Frage zu stellen. Der Fluss wird nach ihr abgesucht? Was ein Unsinn! Ihr Hund war schließlich überhaupt nicht nass. Und was ist mit dem Smartphone, das auf einer Bank am Fluss gefunden wurde? Sie hatte damit an einer Teams-Konferenz teilgenommen – Teil ihrer Arbeit. Warum wurde die Bank nicht abgesperrt, um Spuren zu sichern? Eine Facegroup-Gruppe brachte es binnen weniger Tage auf mehr als 25 000 Mitglieder. Die Seiten der Vermissten in den sozialen Medien wurden von Hobbydetektiven heimgesucht. Ihrem Partner wurde prompt vorgeworfen, er habe sie verschwinden lassen. Leerstehende Gebäude wurden von ihnen aufgebrochen. Peter Faulding, der Chef des Rettungsunternehmens Specialist Group International, flog per Hubschrauber ein, nachdem er der Familie angeboten hatte, kostenlos für sie zu arbeiten. Wenige Tage zuvor war bei Macmillan sein Buch „What Lies Beneath. My Life as a Forensic Search and Rescue Expert“ erschienen. Nach seiner Ankunft entfaltete Faulding eine beeindruckende Medienpräsenz. Unter anderem erklärte er, der Fluss sei am Ufer nicht tief genug, um die Vermisste wegzutragen, sollte sie, wie von der Polizei zunächst vermutet, hineingefallen sein. Seine Taucher hätten den Fluss abgesucht, ohne etwas zu finden. Die Vermisste sei nicht dort.

Unterdessen suchten 40 Polizeibeamte nach ihr – der Polizei von Lancashire zufolge hat es einen solchen Aufwand in so einem Fall noch nie gegeben. Auf einer Pressekonferenz der Ermittler hieß es nun, die Vermisste habe psychische Probleme gehabt. Die Polizei habe gut zwei Wochen vor ihrem Verschwinden einen Hausbesuch gemacht, um ihr Wohlergehen sicherzustellen. Damit wurde nicht nur die Privatsphäre der bis heute nicht gefundenen Frau verletzt. Die Wirklichkeit hielt Einzug und der Fall verlor viel von der aufregenden Gruseligkeit, die Hinz und Kunz angezogen hatte.