Verdeckte Verstaatlichung
Deutschland steckt mit der Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen in einem Dilemma. Ein Boykott der Gaslieferungen droht über komplexe Kaskadeneffekte Produktionsstörungen in vielen Branchen auszulösen – von der Chemie über die Lebensmittelindustrie bis hin zu Stahl und Glas. Allein BASF steht für 4% des in Deutschland verbrauchten Gases. Der Steamcracker des Chemiekonzerns in Ludwigshafen müsste heruntergefahren werden, wenn die Lieferungen um mehr als die Hälfte gegenüber dem Normalmaß zurückgehen. Anders als in der Stromerzeugung, wo Kohle als Substitut dienen kann, lässt sich das Gas in der Chemie kaum ersetzen. Das Embargo würde in eine Rezession münden. Andererseits drohen die fortgesetzten Zahlungen an Russland für Gasimporte den Krieg zu verlängern. Ob Importstopp oder fortgesetzte Zahlungen – beides führt zu einem unerwünschten Ergebnis.
Europa bezieht jährlich 150 Mrd. Kubikmeter Gas aus Russland. Bis zum Jahresende will die EU-Kommission diese Menge um zwei Drittel reduzieren – vor allem durch zusätzliches Flüssiggas aus Katar und den USA. Noch fließt das russische Gas unvermindert durch die Pipelines. Doch wenn die Europäische Union am morgigen Mittwoch über eine fünfte Runde neuer Sanktionen berät, dann dürfte die Option eines Boykotts erneut auf die Tagesordnung kommen. Die Bundesregierung lehnt ein Embargo ab. Doch innerhalb der Regierung Italiens, das mindestens ebenso abhängig vom russischen Gas ist, werden die Rufe nach einem Importstopp lauter. Litauen beginnt den Boykott bereits im Alleingang als erstes europäisches Land und ersetzt die aus Russland importierten Mengen ab sofort durch Flüssiggaslieferungen.
Natürlich wäre ein solcher Schritt für Deutschland schwieriger, weil der Wohlstand hierzulande stärker von energieintensiver Industrie abhängt. Dennoch muss die Ersetzung russischen Gases mit höherem Tempo als bisher vorangetrieben werden. Denn jenseits von den jetzt vertragsgemäß gelieferten Mengen könnten bald die Preise zur Debatte stehen. Dass Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck die Netzagentur nun als Treuhänder für das Gazprom-Geschäft in Deutschland einsetzt, kommt einer Verstaatlichung schon sehr nahe. Gazprom hat sich zuvor von seiner deutschen Tochter Gazprom Germania mit deren Aktivitäten im deutschen Gashandel, den Speichern und dem Netz getrennt und sie an eine dubiose Moskauer Firma übertragen, ohne dies gemäß den Regeln des Außenwirtschaftsgesetzes korrekt zu melden. In der Branche wird das als Schachzug interpretiert, um die bisherigen Lieferverträge neu verhandeln zu können. Billiger wird es dann wohl nicht werden.
Insofern rückt der EU-Plan zur Reduzierung der russischen Gasimporte um zwei Drittel wieder in den Vordergrund. Der größte Teil – fast die Hälfte – des Ersatzes der russischen Importe soll durch die Einfuhr von 50 Mrd. Kubikmeter mehr Flüssiggas (LNG) im Vergleich zu 2021 erreicht werden. Es ist erwähnenswert, dass die LNG-Importe in die EU in den ersten beiden Monaten des Jahres 2022 bereits um etwa 10 Mrd. Kubikmeter höher waren als 2021. Einer Steigerung um 50 Mrd. Kubikmeter stehen indes laut Oxford-Energieinstitut so große Schwierigkeiten entgegen, dass nur etwa 30 Mrd. Kubikmeter erreichbar sind. 2021 hat die EU rund 77 Mrd. Kubikmeter LNG importiert. Es hätte deutlich mehr sein können. Denn die Regasifizierungskapazitäten, mit denen das Flüssiggas für Pipelines in Gas zurückverwandelt wird, waren nur zu 50% ausgelastet.
Ein erheblicher Teil der LNG-Importkapazität der EU befindet sich jedoch in Spanien und Portugal. Die Pipeline-Kapazität zwischen Spanien und Frankreich beträgt nur 7,5 Mrd. Kubikmeter pro Jahr. Die verfügbare Pipeline-Kapazität von 7 Mrd. Kubikmeter pro Jahr zwischen Spanien und Frankreich ist ein schwerwiegender Engpass für die Nutzung der 36,2 Mrd. Kubikmeter LNG-Importkapazität, die 2021 in Spanien und Portugal ungenutzt war. Die EU abzüglich der iberischen Halbinsel verfügt nicht über genügend Kapazität, um zusätzliche 50 Mrd. Kubikmeter LNG in die Märkte zu importieren. Das wäre nur möglich, wenn die grenzüberschreitende Leitung zwischen Spanien und Frankreich im Eiltempo ausgebaut würde. Normalerweise dauert so etwas mindestens eineinhalb Jahre. Es wäre die Aufgabe der europäischen Regierungen, diesen Zeitraum mit allen verfügbaren Mitteln auf neun Monate zu reduzieren, damit im nächsten Winter genug Gas da ist, um auf russische Gaslieferungen weitgehend zu verzichten.