Peking verunsichert

Volks­kongress ohne Volk

Beim diesjährigen Volkskongress glänzte das Volk mit Gedankenabwesenheit. Denn Xis Verbrüderung mit Putin schmeckt nicht jedem.

Volks­kongress ohne Volk

Wladimir Putins Angriff auf die Ukraine mag in Rücksichtnahme auf chinesische Befindlichkeiten erst nach dem Abschluss der Pekinger Winterolympiade lanciert worden sein, Chinas nationalen Volkskongress aber hat es voll erwischt. Bei der jährlichen Pekinger Parlamentsgala in der Großen Halle des Volkes gilt es für die Parteiführung einerseits, mit großem Dekorum und vertrauten Ritualen die Zustimmung des Volkes zu ihrem als makellos dargestellten Governance-System zu festigen. Andererseits soll auch Tacheles geredet werden, wenn die Regierung zum Kongressauftakt ihr Wirtschaftsprogramm darbietet, die vor ihr liegenden Aufgaben skizziert und Lösungsvorschläge präsentiert.

Das alles vermittelt wirtschafts- und sozialpolitische Kompetenz und sorgte bislang dafür, dass Chinas Bürger sich an breiter Front für die neuen Botschaften interessieren und gedanklich am Volkskongress partizipieren. Bei der diesjährigen Auflage aber hat das Volk vor allem durch Gedankenabwesenheit geglänzt, während der Staatsapparat die gewohnte Souveränität vermissen ließ. Das liegt in erster Linie natürlich an der Causa Putin. Mit der hatte sich Chinas Staatspräsident unmittelbar vor Olympia-Beginn demonstrativ verbrüdert und be­kommt nun unappetitliche Folgen in Rechnung gestellt.

In Chinas sozialen Netzen spielt der Volkskongress diesmal kaum eine Rolle. Dafür tobt eine regelrechte Meinungsschlacht zum Ukraine-Krieg. Eine erstaunliche Vielzahl von glühenden Putin-Anhängern zankt sich mit tendenziell aus oberen Bildungsschichten stammenden Bedenkenträgern. Letztere sehen mit hilfloser Wut im Bauch die russischen Kriegstaten und verstehen nicht, wie sich diese mit chinesischen Nationalinteressen rechtfertigen lassen. Tatsache ist, dass der Volkskongress keinerlei „Guidance“ von oben zu spenden vermochte, wie dieser Meinungskonflikt aufgehoben werden kann. Die Partei hat keine Linie gefunden, bei der man sich gut aufgehoben fühlt und sich im Vertrauen auf die väterliche Schutzrolle des Staates wieder anderen Alltagsthemen zuwenden kann.

Bezeichnenderweise ist auch die zweite wichtige Funktion des Volkskongresses mit der Vermittlung von wirtschaftspolitischer Kompetenz und konjunktureller Lenkungskunst in diesem Jahr ziemlich in die Hose gegangen. Chinas Regierung hat sich mit einem Wachstumsziel für das Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 5,5% auf regelrecht trotzige Weise nach vorn gewagt. In weniger unruhigen Zeiten hätte man die Vorgabe als eine vertrauensstiftende Botschaft verstehen können, mit der Chinas Wirtschaftsplaner zeigen, dass sie über genügend Stimulierungsreserven verfügen, um die Konjunktur auf dem ge­wünschten Kurs zu halten.

Diesmal jedoch dringt eine andere Botschaft durch: Peking hat das Wachstumsziel 2022 mehr am politischen Wunschdenken als an den wirtschaftlichen Realitäten aufgehängt. Das ist eine Form des demonstrativen Optimismus, der Marktteilnehmer weniger überzeugt als vielmehr unruhig werden lässt. Die diesjährige Zielvorgabe scheint nur dann überhaupt erreichbar, wenn Peking geld- und fiskalpolitisch alles in die Waagschale wirft und gleichzeitig noch von einem einigermaßen günstigen globalen Wirtschaftsumfeld profitiert. Dass sie zu einem Zeitpunkt aufgestellt wurde, als bereits absehbar war, dass der Ukraine-Krieg allein über die Rohstoffpreisschiene, Handelsstörungen und Kapitalumschichtungen ge­waltige Verwerfungen mit sich bringen kann, von denen auch China negativ erfasst werden dürfte, macht die Angelegenheit fast schon ein wenig fahrlässig.

Sowieso gibt es nicht nur die Unsicherheiten aus dem Ukraine-Krieg, sondern auch eine seit Anfang März an Fahrt aufnehmende Coronawelle in chinesischen Großstädten. Will man ihr getreu der auf dem Volkskongress erneut hochgehaltenen „Nulltoleranzpolitik“ mit drastischen Lockdowns selbst bei niedrigen Inzidenzquoten begegnen, leidet die Wirtschaft erheblich. Hinzu kommt wachsender Zweifel an der Sinnhaftigkeit von bürokratisch überfrachtet wirkenden Restriktionen und Quarantänemaßnahmen, mitsamt den besonders schwer einleuchtenden präventiven Krankenhausschließungen, so dass Corona-Schutz die Bedürfnisse aller übrigen Patienten kompromittiert. China macht an den drei entscheidenden Fronten Weltpolitik, Wirtschaftspolitik und Gesundheitspolitik derzeit eine unsichere Figur. Der Volkskongress hat diesen Eindruck nicht verwischen können, sondern vielmehr noch verstärkt.

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