Vorübergehende Lähmung
Die Airline hatte die kostenlose Umbuchung des Flugs von sich aus angeboten. Doch vor der Ankunft am Londoner Flughafen Gatwick hatte ich mir keine großen Sorgen um den Streik der britischen Grenzbeamten gemacht. Schließlich hatte die Regierung Militärangehörige dazu verdonnert, den Betrieb während des Arbeitskampfes aufrechtzuerhalten. Die Soldaten machten ihren Job offenbar sehr gut. Reisende berichteten in den sozialen Medien begeistert davon, wie schnell sie durch die Passkontrolle kamen. Doch leider waren bei meiner Ankunft keine olivgrünen Uniformen mehr zu sehen. Wer konnte, nutzte das automatisierte Grenzkontrollsystem. Dort gab es keinerlei Verzögerungen, was bei vielen Eltern mit Kleinkindern in der langen Schlange den Wunsch nach einer generellen Automatisierung der Kontrollen bei der Ein- und Ausreise geweckt haben dürfte. Bislang stehen dem noch technische Schwierigkeiten bei der Gesichtserkennung von Kindern unter 12 Jahren im Weg. Aber allzu lange dürfte es nicht mehr dauern, bis diese Probleme ausgeräumt sind. Und dann werden sich die fortan nicht mehr benötigten Grenzbeamten vermutlich wünschen, die Öffentlichkeit nicht mit Streiks rund um die Feiertage und Dienst nach Vorschrift vergrätzt zu haben. Das Image der Truppe ist ohnehin angeschlagen, nicht zuletzt wegen ihres Unvermögens, die illegale Zuwanderung über den Ärmelkanal zu stoppen.
Gerne hätte ich für diese Reise auf klimafreundlichere Verkehrsmittel wie die Bahn zurückgegriffen. Doch Streiks der Eisenbahner sorgten dafür, dass selbst für den Eurostar die Gefahr bestand, dass die gebuchten Verbindungen gestrichen werden. Von Gatwick gab es an diesem Tag keine Züge nach London. An den Taxiständen und Fernbushaltestellen bildeten sich lange Schlangen. Der Unmut der Betroffenen war unüberhörbar.
Mögen sich die Streikenden auch einreden, die Öffentlichkeit auf ihrer Seite zu haben: Die Wirklichkeit sieht anders aus. Die Eisenbahner kämpfen gegen Windmühlen. Der Strukturwandel im Schienenverkehr ist überfällig. Er hätte schon vor vielen Jahren stattfinden müssen, allerdings wurden die Probleme mit den archaischen Arbeitsweisen der Branche vor der Pandemie noch dadurch verschleiert, dass das hohe Passagieraufkommen die Einnahmen sprudeln ließ. Lockdowns, das Arbeiten von zu Hause und der Ärger über die Unzuverlässigkeit der Bahngesellschaften haben dazu geführt, dass mittlerweile weit weniger Briten den Zug nehmen.
Die Entscheidung vor der Abreise nach Deutschland, lieber den Langzeitparkplatz des Flughafenbetreibers zu nutzen, zahlte sich im Nachhinein aus. Der Verkehr auf der Autobahn Richtung Stadt war vergleichsweise zügig. Doch der Blick in den leeren heimischen Briefkasten rief die Lähmung, die das Land ergriffen hat, wieder in Erinnerung. Auch bei der Royal Mail findet ein erbitterter Arbeitskampf statt. Deshalb bleiben nicht nur Weihnachtskarten liegen, sondern auch Benachrichtigungen des öffentlichen Gesundheitswesens – ironischerweise auch die Unterlagen für die Urabstimmung der Lehrergewerkschaft NASUWT. Mindestens seit Heiligabend ist bei mir keine Post mehr angekommen. Doch egal wie lange die Briefträger sie auch liegenlassen: Ihre Privilegien aus der Zeit, in der die Brief- und Paketlogistik der britischen Post noch ein Staatsbetrieb war, werden keinen Bestand haben. Großkunden wie Verlage, die sich das nicht länger bieten lassen wollen, werden vermehrt auf alternative Postdienstleister zurückgreifen. Als George Osborne Royal Mail 2013 an die Londoner Börse brachte, wurde ihm vorgeworfen, ein Kronjuwel zu verramschen. Seitdem werden immer weniger Briefe befördert. Doch die nötigen Veränderungen scheiterten am erbitterten Widerstand der Gewerkschaft CWU. Das vermeintliche Juwel erwies sich in vielen Aktiendepots als Tretmine.
Die gute Nachricht bei alledem ist: Die Lähmung ist vorübergehender Natur. Denn die Gewerkschaften führen Rückzugsgefechte gegen ökonomische Kräfte, die weitaus stärker sind. Und in der britischen Öffentlichkeit wächst die Kritik an ihrem rücksichtslosen Vorgehen. Anders als einst die Bergarbeiter können Eisenbahner, Grenzbeamte, Lehrer und Postboten nicht auf breite Unterstützung hoffen.